Der Wolkenpavillon
unterbrach das Gespräch. Sano, seine beiden Ermittler und Major Kumazawa hoben den Blick und sahen Chiyos Mutter in der Tür stehen. Tränen strömten über ihr von Kummer verzerrtes Gesicht. Major Kumazawa erhob sich und ging zu ihr. Sie flüsterte ihm irgendetwas ins Ohr und verließ fluchtartig das Empfangsgemach. Sichtlich erschüttert kehrte der Major zu seinen Gästen zurück.
»Meine Tochter ...«, begann er und schluckte schwer. »Meine Gemahlin hat Chiyo entkleidet und gebadet. Dabei hat sie gewisse ... Verletzungen entdeckt. Und Blut.« Wieder stockte er, dann sagte er mit leiser, brüchiger Stimme: »Meine Tochter wurde geschändet.«
Chiyos zerrissene Kleidung hatte bei Sano zwar schon den Verdacht auf eine Vergewaltigung geweckt, dennoch war er erschüttert, dass seine Vermutung sich nun bestätigte. Major Kumazawa fiel auf die Knie, überwältigt von Schmerz und Entsetzen. Eine Vergewaltigung war das Schlimmste, was einer Frau geschehen konnte, vielleicht noch schlimmer als der Tod, denn dieses Verbrechen beschmutzte ihren Körper und ihren Geist, besudelte ihre Ehre und vernichtete ihre Reinheit. Sano und die beiden Ermittler senkten den Kopf als Zeichen des Mitgefühls.
Grelle Wut verzerrte Kumazawas Gesicht zu einer hasserfüllten Maske. Er lief dermaßen rot an, dass Sano befürchtete, der Schlag könnte ihn treffen. »Es ist schändlich, was meiner Tochter angetan wurde! Dabei verstößt es nicht einmal gegen das Gesetz!«
Tatsächlich galt eine Vergewaltigung nach den Gesetzen der Tokugawa nicht als Verbrechen. Männer konnten ihre fleischliche Lust befriedigen, wie es ihnen beliebte, auch gegen den Willen einer Frau, und wurden nicht bestraft. Aber bei Chiyo lag der Fall anders.
»Eure Tochter ist das Opfer einer Entführung«, sagte Sano. »Und sie wurde verletzt. Die Verletzung deutet auf einen tätlichen Angriff hin, und das ist ein Gesetzesverstoß - genauso wie die Entführung. Derjenige, der Chiyo misshandelt hat, wird nicht ungestraft davonkommen.«
Man würde den Vergewaltiger ins Gefängnis stecken, wo er von den Wächtern gefoltert wurde. Es konnte auch sein, dass der Magistrat ihn für eine gewisse Zeit zu einem rechtlosen Leben als Geächteter verurteilte. Es konnte sogar sein, dass der Täter hingerichtet wurde, weil der Vater seines Opfers politische Verbindungen hatte.
Major Kumazawa verzog das Gesicht. »Sagt das der Polizei! Sie haben nichts getan, um Chiyo zu suchen. Die werden ihren Peiniger nicht fassen. Nein!« Er schlug mit der Faust auf den Fußboden. »Wenn ich will, dass der Täter bestraft wird, muss ich die Sache selbst in die Hand nehmen. Aber zuerst muss ich ihn finden.« Mit sichtlichem Widerstreben blickte er Sano an. »Helft Ihr mir bei der Suche nach diesem Hurensohn?«
Sano erkannte, dass er und sein Onkel nun ein gemeinsames Ziel hatten. Außerdem betrachtete er das Verbrechen an seiner Cousine als persönlichen Angriff, und genau wie sein Onkel wollte auch er, dass Chiyo Gerechtigkeit widerfuhr und dass der Täter bestraft wurde. Mit einem Mal empfand er eine ganz unerwartete familiäre Verbundenheit mit seinen Verwandten.
»Natürlich helfe ich Euch«, sagte er. »Ich werde sofort die Ermittlungen aufnehmen. Zuerst aber muss ich mit Chiyo reden.«
»Wieso?«
»Ich will von ihr wissen, was geschehen ist.«
Widerstreben spiegelte sich in Kumazawas Augen. »Sie wurde entführt und geschändet! Mehr brauchen wir doch nicht zu wissen. Ich will nicht, dass Chiyo das Ganze noch einmal durchleben muss. Sie hat schon genug durchgemacht.«
Sano erkannte, dass die Zusammenarbeit mit seinem Onkel nicht leicht werden würde. »Sie wird das alles so oder so noch einmal durchleben, ob sie darüber redet oder nicht.« Sano wusste von Reiko, dass sie noch immer von Albträumen gequält wurde wegen der schrecklichen Dinge, die sie erlebt hatte, auch wenn sie selten darüber sprach. »Und im Moment ist Chiyo unsere einzige Informationsquelle.«
»Ich will nicht, dass sie sich aufregt!«, sagte Kumazawa unbeirrt. »Lasst uns lieber nach Asakusa reisen und vor Ort Ermittlungen anstellen.«
Möglicherweise würde Sano auf diesen Vorschlag zurückkommen - aber erst wenn die Befragung des Opfers nichts ergeben sollte. »Zuerst rede ich mit Chiyo«, beharrte er und erhob sich. »Wie Ihr sicher wisst, brauche ich dazu nicht Eure Einwilligung. Ihr dürft bei der Vernehmung gern zugegen sein.«
Die Ermittler Marume und Fukida erhoben sich ebenfalls. Sie blickten
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