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Der Wolkenpavillon

Der Wolkenpavillon

Titel: Der Wolkenpavillon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Joh Rowland
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Haus, während seine drei Kumpane plötzlich auffällig mit dem Stopfen ihrer Pfeifen beschäftigt waren. Dann erschien der Wortführer wieder in der Tür und bedeutete Hirata, ihm ins Haus zu folgen.
    Als er von dem Verbrecher durch die Gänge geführt wurde, kam Hirata an zahlreichen Zimmern vorbei, in denen Bandenmitglieder die Zeit totschlugen, während sie auf Befehle ihres Anführers warteten. Sie beäugten Hirata mit feindseligen Blicken. Ein paar finstere Gestalten saßen im Kreis und spielten mit hana-fuda-Karten, den »Blumenkarten«. Hirata beobachtete, wie einer der Halunken seine Karten wütend auf den Boden knallte, während die anderen lachend riefen: »Ya-ku-za!«
    Die Acht, die Neun und die Drei - das mieseste Blatt, das es gab. Den Banditen schien es dennoch zu gefallen. Vielleicht betrachteten sie es als eine Art Symbol für ihre eigene wertlose Existenz.
    Hirata wurde in ein Empfangsgemach geführt, dessen Fußboden mit so dicken, weichen tatami -Matten ausgelegt war, dass er das Gefühl hatte, als würde er über Kissen gehen. Ein Wandgemälde zeigte einen Garten voller Blumen in leuchtenden Farben, durch den ein silbern schimmernder Bach plätscherte. Bewegliche Trennwände aus schwarzem Lack mit goldenen Einlegearbeiten, die Vögel darstellten, standen im Zimmer, von der Decke hingen Lampen aus Messing herab, und auf großen Regalen stand eine beeindruckende Sammlung goldener Figürchen. Jirocho war ein steinreicher Mann, verbarg seinen Wohlstand aber hinter verschlossenen Türen: Nicht einmal ein Unterweltfürst wie er durfte es wagen, offen gegen die Luxusgesetze der Tokugawa zu verstoßen, die es gemeinen Bürgern untersagten, ihren Reichtum zur Schau zu stellen.
    Zwei Frauen brachten Hirata Erfrischungen. Die Frauen waren erlesen gekleidete Schönheiten, die es mit den teuersten Kurtisanen in Edos berühmtem Vergnügungsviertel Yoshiwara hätten aufnehmen können. Schweigend servierten sie Tee und einen Imbiss und verschwanden wieder.
    Hirata lauschte den Verbrechern, die sich beim Kartenspiel unterhielten und derbe Scherze machten. Doch sein geschärftes Gehör nahm noch ein anderes Geräusch wahr, das aus einiger Entfernung an seine Ohren drang: ein Schluchzen.
    Hirata folgte dem Geräusch einen Flur entlang und gelangte an eine Tür, die gerade so weit offen stand, dass er in das Zimmer dahinter spähen konnte. Er sah einen bitterlich weinenden jungen Mann auf dem Fußboden knien, den Oberkörper vorgebeugt, die Arme ausgebreitet. Neben ihm standen zwei ältere Banditen. »Ich habe schlimme Dinge über dich gehört«, sagte eine tiefe, raue Stimme. »Angeblich hast du einen Teil von dem Geld, das du von den Händlern kassiert hast, in die eigene Tasche gesteckt.« Hirata konnte den Sprecher nicht sehen, aber es war die Stimme Jirochos. »Hast du ernsthaft geglaubt, ich komme nicht dahinter?«
    »Es tut mir leid!«, schluchzte der junge Bursche. »Ich hätte das nicht tun sollen!«
    Hirata wusste, dass der Ehrenkodex der Verbrecher drei Hauptregeln beinhaltete: Lass die Finger von den Frauen deiner Kumpane, gib Geheimnisse deiner Bande niemals an Außenstehende weiter, und - die oberste Regel - sei deinem Anführer gegenüber jederzeit ehrlich. Offenbar hatte der junge Bursche gegen dieses letzte Gebot verstoßen.
    Einer der beiden älteren Verbrecher packte ihn und riss ihn hoch. Der andere schob einen schweren Tisch vor ihn und hielt ihm ein Beil hin. Obwohl er vor Angst schluchzte und zitterte, ergriff der junge Mann das Beil mit der linken Hand, legte die rechte Hand auf die Tischplatte, ballte sie zur Faust und spreizte den kleinen Finger ab. Dann hob er das Beil, stieß einen Schrei aus und hackte sich die Fingerspitze ab.
    Hirata zuckte zusammen. Er hatte schon sehr viel schlimmere Gewalttaten gesehen, dennoch schockierte ihn, was er soeben beobachtet hatte, obwohl es unter Verbrechern üblich war. Bei jedem Verstoß gegen die ungeschriebenen Gesetze der Unterwelt musste der Übeltäter sich ein Fingerglied abhacken. Samurai, die gegen ihren Ehrenkodex, den bushido, verstoßen hatten, bestraften sich selbst, indem sie rituellen Selbstmord verübten, wie die Ehre es von ihnen verlangte, doch die erzwungene Selbstverstümmelung der Verbrecher war in Hiratas Augen bizarr.
    Bleich wie der Tod nahm der junge Mann von einem seiner Kumpane ein weißes Seidentuch entgegen, wickelte das abgetrennte Fingerglied darin ein und reichte es Jirocho.
    »Dieses Mal will ich dir vergeben«, sagte

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