Der Wolkenpavillon
dann wurde sie von den Mädchen getrennt. Als diese sich auf den Heimweg machen wollten, konnten sie Tengu-in nirgendwo finden. Wir alle haben vergeblich nach ihr gesucht. Daraufhin habe ich ihr Verschwinden bei der Polizei gemeldet.«
Genau wie bei Chiyo, ging es Sano durch den Kopf. »Und wo ist sie dann wieder aufgetaucht?«
»Vor dem Haupttor des Tempels, am frühen Morgen«, sagte die Äbtissin. »Mönche haben sie gefunden und hierher ins Kloster gebracht.«
Sano musste an den Ochsenkarren denken, den die alte Frau in der Gasse beobachtet hatte, in der Chiyo von ihrem Peiniger ausgesetzt worden war. »Wurden an dem Tag, als Tengu-in verschwand, in der Nähe des Haupttempels irgendwelche Ochsenkarren gesehen?«
»Davon haben die Novizinnen mir nichts erzählt.«
»Und an dem Morgen, als Tengu-in vor dem Haupttor gefunden wurde?«
»Das weiß ich nicht. Allerdings wurden in letzter Zeit Arbeiten an den Tempelgebäuden vorgenommen.«
Die Regierung förderte die Religion und religiöse Einrichtungen, es war also gut möglich, dass Ochsenkarren mit Baumaterial hierher geschickt worden waren.
»Ich interessiere mich für das Schicksal von Tengu-in, weil meiner Cousine Chiyo vor zwei Tagen das Gleiche widerfahren ist wie Tengu-in«, erklärte Sano. »Und ich vermute, dass es beide Male ein und derselbe Täter gewesen ist. Ich will diesen Mann fassen, und dazu brauche ich Tengu-ins Hilfe. Darf ich mit ihr sprechen?«
»Ich fürchte, sie wird euch nichts sagen«, antwortete die Äbtissin. »Sie hat nicht einmal mir etwas erzählt. Die arme Frau ist völlig durcheinander.«
»Verständlich«, sagte Sano. »Aber ich muss darauf bestehen. Wie es aussieht, kann nur Tengu-in mir Hinweise geben, die mich auf die Spur des Täters führen können.«
»Also gut.« Die Äbtissin erhob sich. »Ich bringe Euch zu ihr. Aber versprecht Euch nicht zu viel.«
13.
Jirocho, der Bandenführer, wohnte in Ueno, einem der drei Tempelbezirke von Edo. Ueno lag im Nordosten der Hauptstadt, was als Unheil bringende Himmelsrichtung betrachtet wurde, als »Tor des Teufels«. Deshalb sollten die Tempel im Nordosten auch dazu dienen, die Stadt vor verderblichen Einflüssen zu schützen. Aber das Böse war dort genauso wie überall sonst.
Die Straße in dem wohlhabenden Händlerviertel, in dem Jirocho wohnte, sah auf den ersten Blick genauso aus wie alle anderen Straßen in dieser Gegend. Zwischen den Toren, welche die Straße an beiden Enden von den benachbarten Wohnvierteln abgrenzten, reihten sich große zweistöckige Häuser mit Ziegeldach aneinander, deren Eingänge von einem Vordach beschattet wurden. Vier Männer lungerten vor Jirochos Haus herum und rauchten Pfeife. Ein zufälliger Beobachter wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass in diesem Haus einer der berüchtigtsten Verbrecherfürsten von Edo wohnte. Doch Hirata, der die Straße heraufgeritten kam, kannte die Zeichen.
Die vier Männer hatten Tätowierungen in Blau und Schwarz, die unter dem Kragen und unter den Ärmeln ihrer Kleidung hervorschauten. Früher waren Verbrecher auf polizeilichen Befehl tätowiert worden, um sie zu brandmarken, doch heutzutage galten Tätowierungen als äußeres Zeichen von Wohlstand und Tapferkeit. Außerdem zeigten sie, zu welcher Bande ein Verbrecher gehörte. Die Tätowierungen wurden von einem Halunken mit dem gleichen Stolz getragen, wie ein Samurai das Wappen seines Klans trug.
Als Hirata sein Pferd vor dem Haus zügelte und sich aus dem Sattel schwang, bemerkten die Halunken ihn. »Suchst du was?«, fragte einer von ihnen. Sein Auftreten ließ jeden Respekt vermissen, wie gemeine Bürger ihn üblicherweise einem Samurai entgegenbrachten. Der Mann trug eine Drachentätowierung, die ihn als Mitglied von Jirochos Verbrecherklan auswies. Vermutlich war er bloß ein niederrangiger Soldat innerhalb der Bande.
»Ich möchte Jirocho sprechen«, sagte Hirata.
»Woher willst du wissen, dass er mit dir sprechen will?«
»Sag ihm, Hirata ist da.«
Die vier Männer erstarrten, als sie Hiratas Namen hörten. Sein Ruf war auch bis in die Unterwelt vorgedrungen. Doch Verbrecher gaben ungern zu, dass sie sich vor jemandem fürchteten. Oft töteten sie andere Menschen bei der geringsten Provokation, und sie kämpften brutal und rücksichtslos gegen Mitglieder rivalisierender Banden. Doch sie hingen mehr am Leben als die Samurai, denen die Ehre über alles ging und die den Tod verachteten.
Der Mann, der Hirata angesprochen hatte, verschwand im
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