Der Wolkenpavillon
Kontrolle zu halten. In gewisser Weise leisteten sie sogar ihren Dienst an der Allgemeinheit, indem sie sich als Geldverleiher und Sicherheitskräfte betätigten. Doch Sano wusste, dass die Zusammenarbeit zwischen Regierung und organisiertem Verbrechen auf lange Sicht nicht gut gehen konnte.
»Diesmal hat es den Anschein, als wäre Jirocho ausnahmsweise einmal Zeuge eines Verbrechens, statt es begangen zu haben«, sagte Sano. »Marume -san , Fukida -san - ihr reitet zu den Stallungen und versucht, den Fahrer des Ochsenkarrens zu finden. Hirata-san - du befragst Jirocho und seine Tochter. Und ich werde die Nonne vernehmen.«
*
Die riesige Anlage des Zōjō-Tempels war eine Stadt in der Stadt. Neben dem eigentlichen Heiligtum gab es achtundvierzig Nebentempel, das Tokugawa-Mausoleum sowie Tausende von Priestern und Nonnen, Mönchen und Novizen. Das Keiaiji-Kloster war eine Oase der Stille inmitten des Trubels und der Geschäftigkeit, denn die hohe Steinmauer hielt die Geräusche der Außenwelt fern: das Getöse auf dem Marktplatz; den Lärm, den die Heerscharen von Pilgern und Straßenhändlern machten; die Gebetsgesänge, die aus benachbarten Klöstern herüberschallten.
Ein kleiner Kiefernhain inmitten des ausgedehnten, künstlich angelegten Parks mit dem üppigen Rasen, den Flächen aus geharktem weißem Sand und den moosbewachsenen Felsblöcken verströmte einen würzigen Duft. Das Klostergebäude sah eher aus wie die Villa eines reichen Samurai, nicht wie eine Stätte der Askese, wo die Nonnen in Armut, Beengtheit und religiöser Strenge lebten.
Die Äbtissin empfing Sano in einem Raum, der mit kostbaren tatami -Matten ausgelegt war; ein Wandgemälde zeigte den von Wolken umhüllten Fudschijama.
»Ich bin gekommen«, begann Sano, »um Ermittlungen über die Entführung von Tengu-in anzustellen.«
Die Äbtissin, in einen schlichten grauen Umhang aus Hanf gekleidet, musterte ihn schweigend. Ihr Schädel war kahl rasiert, nur ein dünner Flaum aus silbernem Haar schimmerte auf ihrer Kopfhaut. Sie war klein und stämmig wie eine Bäuerin, und ihr breites, derbes Gesicht strahlte Autorität aus.
»Ich verstehe«, sagte sie schließlich. »Eine grauenhafte Geschichte. Tengu-in war bisher eine sehr tugendhafte Frau.«
Sano schloss aus dieser Wortwahl, dass die Nonne nicht nur entführt, sondern auch vergewaltigt worden war. »Es muss schrecklich für Euch und für die Schwestern gewesen sein«, sagte er.
Die Äbtissin nickte. »In der Tat. Zumal Tengu-in allgemein beliebt war.«
Sano entging nicht, dass die Äbtissin die Vergangenheitsform benutzte. War Tengu-in wegen der Vergewaltigung als unrein betrachtet und aus der Klostergemeinschaft ausgestoßen worden? »Ist sie noch hier im Kloster?«
»Ja, natürlich«, antwortete die Äbtissin. »Sie gehört noch immer unserem Orden an. Was man ihr angetan hat, hat daran nichts geändert.« Doch die Miene der Äbtissin ließ erkennen, dass Tengu-in für die Klostergemeinschaft zur Last geworden war. »Tengu-in ist seit acht Jahren bei uns. Sie war kurz nach dem Tod ihres Gemahls in unseren Orden eingetreten. Die beiden waren fünfundvierzig Jahre lang verheiratet.«
Viele Witwen gingen ins Kloster, manche aus religiösen Gründen, andere, weil sie nach dem Tod ihres Mannes vereinsamt, verarmt und ohne Dach über dem Kopf waren. Tengu-in musste jetzt in den Sechzigern sein. Was für ein Ungeheuer war dieser Täter, überlegte Sano, dass er eine Frau in diesem Alter, noch dazu eine Nonne, entführt und vergewaltigt hatte.
»Ihr Gemahl war ein hoher Beamter im Dienste des Fürsten Kuroda«, fuhr die Äbtissin fort. »Deshalb kam Tengu-in mit einer stattlichen Mitgift zu uns.«
Das war möglicherweise die Erklärung für die ungewöhnlich luxuriöse Ausstattung des Klosters. Trat eine Frau einem Orden bei, brachte sie sämtliche Goldmünzen, Seidengewänder und andere Kostbarkeiten in das Vermögen des Ordens ein, in den sie eintrat. Offenbar war Tengu-in ein Glücksfall für das Keiaiji-Kloster gewesen.
»Aber das ist natürlich nicht der Grund, weshalb sie bei uns so beliebt war«, fügte die Äbtissin rasch hinzu. »Sie war eine gute Frau, die niemals irgendwelche Privilegien beansprucht hat, weil sie aus einer reichen Familie kam. Sie hatte immer ein freundliches Wort für ihre Mitschwestern.«
»Wo genau ist sie entführt worden?«, wollte Sano wissen.
»Vor dem Haupttempel. Sie war als Aufpasserin mit ein paar Novizinnen dort, um mit ihnen zu beten, aber
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