Der Wolkenpavillon
mit der ganzen Verzweiflung und Ungeduld, die ein neunjähriger Junge aufbringen konnte. »Ja, Mutter.«
*
Bevor Sano seine Ermittlungen weiterführen konnte, hatte er ein wichtiges Treffen mit dem Shōgun, Yanagisawa und dem Ältesten Staatsrat.
In der Hauptempfangshalle des Inneren Palasts, der eigentlichen Residenz des Herrschers, kniete Tokugawa Tsunayoshi auf einem Podest. Das Wandgemälde hinter ihm zeigte Seerosenblätter, die unter einem goldenen Himmel auf einem blauen Teich trieben. Kohleöfen vertrieben die kalte Feuchtigkeit aus der Luft. Sano und Yanagisawa teilten sich den Ehrenplatz zur Rechten des Shōgun. Das Privileg, unmittelbar neben dem Herrscher zu sitzen, wechselte bei jeder Versammlung; am heutigen Tag stand es Sano zu.
Die vier Ältesten - vier greise Männer, die das oberste Gremium des bakufu bildeten - knieten unterhalb des Shōgun auf dem höheren von zwei Podesten. Auf dem unteren Podest, noch eine Ebene tiefer, knieten niederrangige Beamte. An den Wänden hatten Wachsoldaten Aufstellung genommen. Die Gesichter aller Anwesenden waren von der Hitze aus den Öfen gerötet, nur das Gesicht des Shōgun nicht. Obwohl er in einen schweren bronzefarbenen Seidenumhang gehüllt war, zeigte sein Antlitz die gewohnte wächserne Blässe. Während Sano, Yanagisawa und die vier Ältesten verschiedene Regierungsangelegenheiten besprachen, wurde der Herrscher zunehmend gelangweilt und unruhig. Sano konnte beinahe sehen, wie ihm jedes Wort, das gesprochen wurde, zum einen Ohr hinein- und zum anderen wieder hinausging. Wenn er gebeten wurde, eine Entscheidung abzusegnen, kam er dem nach, ohne zu fragen, um was es eigentlich ging, worauf die Schreiber sein Siegel unter das entsprechende Dokument setzten.
Schließlich wurde der letzte Punkt der Tagesordnung aufgerufen. »Die Pilgerfahrt des ehrenwerten Shōgun zum Nikko Toshogu!«, verkündete der Vorsitzende des Ältestenrats.
Der Toshogu war ein Tempel in der Stadt Nikko, eine Zweitagesreise nördlich von Edo gelegen. In diesem Tempel befand sich das Grab des ersten Herrschers aus der Tokugawa-Dynastie. Zum ersten Mal während der heutigen Versammlung schien das Interesse des Shōgun zu erwachen.
»Aaah«, sagte er, »auf diese Pilgerreise freue ich mich schon lange!« Normalerweise zog der kränkliche Herrscher es vor, die Beschwernisse einer Reise gar nicht erst auf sich zu nehmen, doch derzeit erfreute er sich einer der seltenen Phasen körperlichen Wohlergehens, was seine Abenteuerlust geweckt hatte. »Wann ist es am günstigsten für mich, die Reise anzutreten? Was sagen die Sterne?«
Die Ältesten hüllten sich in Schweigen. Die Hände gefaltet und mit ernster Miene warteten sie ab, dass jemand anders dem Herrscher die schlechte Nachricht überbrachte.
»Ehrenwerter Shōgun«, meldete Sano sich schließlich zu Wort, »zu meinem Bedauern muss ich Euch von der Reise abraten.«
»Ach?« In der Hoffnung, einen Ratschlag zu erhalten, der ihm besser gefiel, wandte der Shōgun sich Yanagisawa zu. »Und was meint Ihr?«
Früher hätte Yanagisawa Sano allein schon deshalb widersprochen, um sich beim Shōgun einzuschmeicheln. Diesmal aber antwortete er: »Ich muss Kammerherr Sano beipflichten. Ihr solltet auf die Reise verzichten.«
Der Shōgun betrachtete Sano und Yanagisawa mit dem verletzten Ausdruck eines Kindes, das von seinen zwei besten Freunden tyrannisiert wird. »Warum denn das, bei allen Göttern?«
Früher hätte Yanagisawa es Sano überlassen, dem Shōgun zu sagen, was dieser auf gar keinen Fall hören wollte, sodass Sano die Konsequenzen hätte tragen müssen; stattdessen erklärte er: »Eine solche Pilgerfahrt ist ein Unternehmen, das so gewaltig ist wie ein Feldzug. Denkt nur an die Kosten für neue zeremonielle Gewänder, für Unterbringung und Verköstigung. Die Pilgerfahrt wäre einfach zu teuer.«
»Zu teuer? Wie kann das sein?«, fragte der Shōgun verwirrt. »Ich bin reich. Ich kann mir alles leisten, was ich will.« Ein Ausdruck von Unsicherheit erschien auf seinem Gesicht. »Oder nicht?«
Nun war es wieder an Sano, dem Shōgun die Wahrheit zu sagen. »In der Staatskasse ist nicht mehr genug Geld, um die Pilgerreise zu bezahlen und gleichzeitig die Kosten für die Regierungsführung zu begleichen.«
Der Shōgun schwankte zwischen Verärgerung und Bestürzung. »Wie ist das möglich? Dieses ... äh, Problem hatten wir noch nie!«
Seit Tokugawa Tsunayoshi die Macht innehatte, litt das Regime unter chronischem Geldmangel.
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