Der Wolkenpavillon
nicht einmal der Besitzer des Teehauses kannte. Als Sano sich ins Gedächtnis rief, was er in der Leichenhalle gesehen hatte, stieg eine weitere ungute Ahnung in ihm auf. »Dr. Ito hat Tengu-ins Leiche untersucht«, sagte er und berichtete Reiko, was für eine Krankheit der Arzt bei der alten Nonne entdeckt hatte.
»Oh nein!«, stieß Reiko hervor. »Bedeutet das, Chiyo und Fumiko könnten sich ebenfalls angesteckt haben?«
»Hoffentlich nicht«, erwiderte Sano. »Jedenfalls werde ich morgen Ermittlungen darüber anstellen, ob die drei neuen Verdächtigen etwas mit den Ochsenkarrenfahrern zu tun haben.«
»Sei vorsichtig«, sagte Reiko und erzählte Sano von der Auseinandersetzung zwischen Jirocho und Kumazawa im Haus des Majors.
Sano war froh, dass sein Onkel den Vorschlag Jirochos zur Zusammenarbeit zurückgewiesen hatte, doch zugleich beunruhigte ihn der Gedanke an einen blutrünstigen Jirocho, der seine Bande auf die Einwohner von Edo hetzte, um den Vergewaltiger seiner Tochter aufzuspüren. »Das sind keine guten Neuigkeiten«, sagte Sano. »Aber ich werde schon dafür sorgen, dass Jirocho mir nicht in die Quere kommt.«
*
Hirata rannte durch die Flure seiner Villa und hinaus in den Garten, verfolgt von Taeko und Tatsuo, seinen fröhlich kreischenden kleinen Kindern. »Macht nicht so einen Lärm!«, rief Midori aus ihrem Gemach. »Davon bekomme ich Kopfschmerzen.«
Doch es lag kein Zorn in Midoris Stimme. Hirata wusste, wie gern sie es hatte, wenn er zu Hause war und mit den Kindern herumtollte. Einen großen Teil ihrer kurzen gemeinsamen Zeit war Hirata von Midori und den Kindern getrennt gewesen, und nun musste er ihre Liebe zurückgewinnen.
Als der Lärm nicht enden wollte, trat Midori auf die Veranda hinaus. »Das reicht jetzt!«, rief sie in gespieltem Zorn. »Kommt ins Haus! Es wird Zeit, dass ihr ins Bett geht, Kinder.«
Wie nicht anders zu erwarten, reagierten Taeko und Tatsuo mit Bitten und Betteln, noch ein bisschen draußen spielen zu dürfen, doch ihre Eltern ließen sich nicht erweichen.
Als Hirata die Kinder ins Haus bringen wollte, erstarrte er. Eine Wand aus reiner Energie raste durch die Dunkelheit auf ihn zu. Er hielt den Atem an. Eine Gänsehaut überlief ihn, als er erkannte, dass es dieselbe bedrohliche Präsenz war, die er am Shinobazu-See gespürt hatte. Nun befand diese Macht sich auf dem Palastgelände, irgendwo in der Nähe.
Hirata lauschte angestrengt. Der bisher so friedliche Abend vibrierte mit einem Mal von schauerlichen Schreien und schrillem Kreischen, Geräusche, die so hoch waren, dass ein ungeschultes Ohr sie nicht wahrgenommen hätte. Hirata ließ den Blick nach allen Seiten wandern, um die Quelle dieser rätselhaften Kraft auszumachen. Seine Pupillen zogen sich zusammen, und zugleich dehnte der Bereich seiner Sinneswahrnehmung sich immer mehr aus, erfasste die Umgebung seiner Villa, sein Anwesen, das Wohnviertel und schließlich das gesamte Palastgelände, sodass Hirata es wie eine verzerrte Karte vor sich sah, jedes Gebäude, jede Straße und jede Gasse, jeden Winkel. Doch er konnte die Quelle der Kraft nicht orten, er spürte nur die tödliche Bedrohung, die davon ausging.
»Taeko! Tatsuo!«, rief er. »Ins Haus mit euch!«
Er eilte zu den Kindern, riss Taeko mit der einen Hand vom Boden hoch, Tatsuo mit der anderen, und rannte mit ihnen zur Villa. Verschreckt von seiner ungewohnten Grobheit, brachen die Kinder in Tränen aus.
»Was ist los?«, fragte Midori besorgt. »Was tust du da?«
Hirata sprang auf die Veranda und drängte die weinenden Kinder ins Haus. »Du auch!«, rief er Midori zu. »Ins Haus! Schnell!«
»Hast du den Verstand verloren?«, fragte Midori. »Was ist denn los?«
»Jemand ist hinter mir her.« Hirata stellte sich zwischen die Bedrohung und Midori, die Arme ausgebreitet, um sie und die Kinder zu schützen. Angestrengt starrte er in die Dunkelheit, während ihm das Herz bis zum Hals schlug.
»Es ist doch ständig jemand hinter dir her«, sagte Midori. »Du bist der Mann, den alle besiegen wollen.«
»Er ist hier«, sagte Hirata.
»Wer? Ich sehe niemanden.«
Auch Hirata konnte niemanden sehen, doch die seltsame Energie pulsierte noch immer mit bedrohlicher Kraft. »Tu, was ich sage«, zischte Hirata. »Geh ins Haus!«
Entschlossen, seine Familie zu schützen, stieg Hirata die Verandatreppe hinunter. Er verfluchte sich selbst, dass er seine Waffen im Haus gelassen hatte, aber jetzt war keine Zeit mehr, sie zu holen. Jetzt war sein
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