Der Wunschzettelzauber
in Petit Mulot immer gutgetan. Es war eben ein ganz besonderer Ort.
Sie liebte alles an Antoines Elternhaus: den im Schachbrettmuster mit schwarzen und weiÃen Platten belegten Boden in der Diele; den Geruch von alten Möbeln und Bienenwachs; die tröstliche Schlichtheit ihres Schlafzimmers mit den gekalkten Wänden, dem einfachen wollenen Bettüberwurf und dem hübschen Gemälde, das das Meer zeigte; die groÃe, kühle, schlicht eingerichtete Küche, in der Jeannette Regard köstliche Speisen zubereitete.
Chloe freute sich schon darauf, ihre Schwiegereltern wiederzusehen, und auch Rosine, Antoines inoffizielle GroÃmutter, die jedes Mal an Weihnachten und zu Neujahr aus Paris angereist kam.
Rosine wirkte inmitten von Antoines grundsolider, bürgerlicher Familie wie ein glitzerndes kleines Juwel. Dieser auffällige Unterschied war leicht zu erklären, denn sie wurde zwar oft für eine GroÃtante oder etwas Ãhnliches gehalten, doch war sie in Wirklichkeit mit den Regards gar nicht verwandt.
Kurz nach dem Tod von Antoines GroÃvater René â Jeannettes Vater â hatte diese einen Telefonanruf von einer ihr unbekannten alten Dame bekommen, die sich als Rosine Vasseur vorstellte und erklärte, dass sie und René sich in ihrer Jugend, lange vor seiner Ehe mit Jeannettes Mutter, sehr nahegestanden hätten. Rosine hatte aus der Zeitung von Renés Tod erfahren und wusste auch, dass Jeannettes Mutter schon eine Weile tot war. Nun besaà sie noch einige Fotografien von René, und auch ein Porträt, das sie selbst gemalt hatte. Ob Jeannette die Bilder gern hätte? Sie könne sie ihr mit der Post zuschicken. Jeannette aber war froh, eine frühere Freundin ihres Vaters kennenlernen zu können, und fuhr stattdessen selbst nach Paris und stattete Rosine einen Besuch ab.
Wie sie bald entdeckte, war Rosine eine wahrhaft bemerkenswerte Frau. Abgesehen davon, dass sie eine entscheidende Rolle in Renés frühem Liebesleben gespielt hatte, hatte sie sich als StraÃensängerin, als Künstlermodell, als Tänzerin in den Folies Bergères und später als Modeschneiderin und sogar als Verkäuferin in einem schicken Pariser Modehaus durchgeschlagen. Und die ganze Zeit über hatte sie mit Begeisterung wunderschöne Porträts gemalt. AuÃerdem war sie, obwohl ihr weiÃes Haar jetzt in einem zarten Champagner-Blond gefärbt war, in ihrer Jugend ein Rotkopf gewesen, was auch erklärte, warum sie sich jetzt sehr spontan zu Chloe hingezogen fühlte.
Rosine, die inzwischen über neunzig war und noch immer in ihrer Wohnung auf Montmartre lebte, war eine Art Fixstern in der Familie Regard geworden und kam jedes Jahr an Weihnachten zu Besuch, nach wie vor in ihrer gewohnten schicken Schwarz-WeiÃ-Aufmachung â schwarze Seidenbluse, weiÃer Faltenrock, Perlen, schwarz-weiÃe Ballerinaschuhe, und köstlich nach Gardenia von Chanel duftend. Eine alte Dame, der man noch immer ansehen konnte, dass sie einst eine langbeinige Schönheit gewesen war â wie es sich für eine Tänzerin der Folies Bergères gehörte.
Weihnachten in Petit Mulot war ein kulinarisches Erlebnis. Jeannette übertraf sich bei Festlichkeiten in der Küche immer selbst, und so gab es zum weihnachtlichen Abendessen Suppe mit Hummerfleisch, escargots , Entenbrust mit grünen Pfefferkörnern und Kartoffeln à la Dauphinoise , Feldsalat mit Roter Bete und Apfelstückchen und danach eine Platte mit wunderbarem Käse. Zum Abschluss gab es Weihnachtsbaumkuchen, Obst und petit fours . Und natürlich Champagner im Ãberfluss. Chloe war ganz stolz, wie gekonnt Nicolas seine escargots aàâ ebenso geschickt wie all die gut erzogenen französischen Kinder, die man in Restaurants bewundern konnte. Jeannette lächelte, und Chloe dachte beglückt, dass es ihr tatsächlich gelungen war, einen kleinen Gourmet aufzuziehen.
Sie genoss es auch, mit Jeannette über den Weihnachtsmarkt in Auxerre zu schlendern, Nicolasâ Hand fest in ihrer haltend. Die aus rohen Brettern gezimmerten Verkaufsbuden mit den rötlichen Dächern badeten in dem goldenen Licht der StraÃenlaternen, und von überallher erklangen französische Weihnachtspopsongs. Es gab auch eine Eisbahn für Schlittschuhläufer, auf der sich lachende Kinder drängten. Lichterketten hingen in den Bäumen und an Karussells. Jeannette wandte ihr
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