Der Wunschzettelzauber
liebes, von Pelz eingerahmtes Gesicht hin und wieder lächelnd Chloe zu, und sie kauften köstlichen Lebkuchen und ein Glas Gänseleberpastete als Mitbringsel für Chloes Eltern.
Chloe ertappte sich selbst mehr als einmal dabei, wie sie die französischen Familien um sie herum beobachtete, die alle ihren Dad dabeihatten; manche lieÃen sogar ihre Kinder auf den Schultern reiten. Bei diesem Anblick drückte sie jedes Mal unwillkürlich Nicolasâ Hand. Und was empfand sie selbst? Ja, sie sehnte sich danach, eine dieser sorglosen, jungen französischen Frauen zu sein, die ihre Männer Chéri ! riefen und über ganz alltägliche Dinge redeten â nachträgliche Geschenke für die Nachbarskinder, ob er den Rest ihres Glühweins austrinken wolle und wo sie das Auto abgestellt hätten. Also hatte Nicolas es geschafft, dachte sie betroffen. Er hatte ihr mit seinem Vaterwunsch einen Floh ins Ohr gesetzt. Es war klar, welchen Vorsatz sie sich für das neue Jahr genommen hatte.
Für den ersten Weihnachtsfeiertag hatten Jeannette und André mehrere Freunde und Bekannte zu einer kleinen Party eingeladen, aber am frühen Nachmittag hatte heftiger Schneefall, schon fast ein Blizzard, eingesetzt, und so hatten die Gäste einer nach dem anderen angerufen und abgesagt, weil sie ihre Häuser nicht mehr verlassen konnten. Jeannette war enttäuscht, dass die Party ausfiel. Chloe und Nicolas aber standen lange wie zwei verzauberte Kinder am Fenster, tranken heiÃe Schokolade und beobachteten die wirbelnden Schneeflocken. Es war ein Gefühl, als säÃe man in einer gläsernen Schneekugel, mitten im französischen Winter-Wunderland.
Später am Abend, als Chloe mit Rosine, Jeannette und André gemütlich zusammensaÃ, erwähnte sie vorsichtig Nicolasâ besonderen Wunsch nach einem neuen Daddy. Sie sah, dass dies für Antoines Eltern ein Schock war, weil auch sie in Chloe immer Antoines Frau sahen. Jeannette wechselte schnell das Thema.
Dann aber rief Rosine Chloe zu sich und erzählte ihr eine ihrer Geschichten, von denen sie anscheinend Hunderte auf Lager hatte und von denen sie jede immer im richtigen Moment hervorholte und keine davon zweimal erzählte.
Rosine schilderte, wie eine Tante von ihr sich 1914 mit einem jungen Mann verlobt hatte, den sie liebte. Er wurde einberufen und an die Front geschickt wie viele andere junge, hübsche Rekruten, mit einer Blume auf dem Bajonett und mit groÃer Zuversicht auf ein rasches Ende eines triumphalen Feldzugs hoffend, denn er wollte seine Liebste nach seiner Rückkehr heiraten. Stattdessen wurde er mit hunderttausend Männern in der blutigen Schlacht an der Somme niedergemäht. Rosines Tante war siebzehn gewesen, als es geschah, und sie hatte nie geheiratet â es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, so etwas zu tun. Sie hatte ihrem Verlobten ihr Wort gegeben, sie war seine Braut, und dabei blieb es.
»Oh Gott«, flüsterte Chloe, als Rosine endete. »Wie unglaublich.«
»Ja, hm«, murmelte Rosine, blickte auf ihre Hände hinab und lächelte. »Meine Tante war eine wunderbare Frau. Aber die Zeiten haben sich geändert. Und wenn ich etwas begriffen habe, dann, dass das Leben â¦Â«
»Kurz ist?«, meinte Chloe.
Rosines Augen glitzerten fröhlich. »Nein. Eigentlich wollte ich sagen, dass das Leben lang ist, wenn man weiÃ, wie man es leben soll.« Sie gab Chloe einen ihrer nach Gardenia duftenden Küsschen. »Du solltest wieder anfangen, richtig zu leben, chérie .«
Als Weihnachten und Neujahr vorüber waren, fuhren Chloe und Nicolas mit dem Eurostar nach London zurück. Nachdenklich betrachtete sie den kleinen Jungen, der vollkommen mit einem Rätselbuch beschäftigt war. Er hatte es mit Anstand aufgenommen, als am Weihnachtsmorgen kein neuer Daddy unter dem Weihnachtsbaum lag. Er hatte seinen groÃen Wunsch nicht einmal erwähnt, sondern glücklich mit seinen neuen Spielsachen gespielt. Natürlich hatte Chloe ihn schon vorher auf diese Enttäuschung vorbereitet, indem sie ihn immer wieder daran erinnerte, dass er erstens wahrscheinlich nicht alles bekommen würde, was auf seiner Wunschliste stand, und dass zweitens der Weihnachtsmann zwar viel Verständnis für seinen Wunsch nach einem neuen Daddy haben würde, aber selbst er ein solch besonderes Geschenk nicht einfach aus seiner pelzbesetzten Mütze ziehen
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