Der Zauber der Casati
Luft elektrisch und erotisch hoch aufgeladen. Gabriele hinterließ große violette Flecken an ihrem Hals, und Luisa trug möglichst tief ausgeschnittene Kleider, um die Liebesmale wirksam zur Schau zu stellen. Trotz ihrer jeweiligen Liebeleien waren sie füreinander voller Respekt und Bewunderung. Sie stellten Freiheit, Genuss und ihre wahnsinnige Freude aneinander über alles, und so war für Kleinlichkeit, Eifersucht und Besitzdenken zwischen ihnen kein Platz.
Auf Luisas Anweisung hin hatten sie eine Vollmondnacht abgewartet. Die zahlreichen Gräber ringsum verliehen dem Ort ein zugleich makabres und friedvolles Gepräge. Bei einem Antiquitätenhändler hatte sie einen Athamé gefunden, einen rituellen Dolch, der dem Hohepriester der Göttin Isis gehört hatte, dreitausend Jahre vor Jesus Christus. Sie nahm den schwarzen Griff in die Hand und zeichnete einen magischen Kreis in die Luft. Dann goss sie Rotwein in ihrer beider Kelche und murmelte Beschwörungen. Indem sie das Glas zum Munde führte, betrat sie den verzauberten Bereich und forderte den Poeten auf, sich zu ihr zu gesellen.
Sie nahm den Pinienzweig und die Myrrhe und begann, in einem italienisch gefärbten Latein zu singen. Sie rief den König der dreifachen Rückkehr an, und der Wind ließ die Wipfel der Zypressen aufrauschen. Mit zum Himmel erhobenen Augen rief sie Samael herbei, den Dämon der Lüfte. Gabriele fand sie wunderschön, wie sie aufrecht im weißen Mondlicht stand. Sie rief Abigor, den Dämon, welcher die Kriegskünste lehrt, und Asmodäus, den mörderischen Dämon des Zorns. Entrückt lächelnd, schwenkte sie ihre Arme über dem Kopf und rief dann Beleth, den Todesfürsten. D’Annunzio reichte ihr die Hand. Der laue Wein hatte ihre Münder gewürzt. Sie umarmten sich und drehten sich umeinander. Sie sang uralte Hymnen, und er rezitierte Verse aus Dantes Inferno . Sie verspürten grenzenlose Freude, die Dämonen wachten über sie. Gabriele küsste Luisa leidenschaftlich; lange würde sie ihn nicht mehr zurückhalten können. Also löste sie sich aus der Umarmung und kniete sich ins trockene Gras, wo sie in einem kleinen Kelch Sandelholz, ein paar wilde Kräuter und Weihrauch abbrannte. Sie betrachtete ihren Geliebten mit ihrem Sphingenblick. Der Moment war gekommen, die Geister der Helden herbeizurufen. Zitternd vor Lust auf die Frau zu seinen Füßen, beschwor D’Annunzio sie einen um den anderen, Patrokles, Herkules, Achill, Cäsar! Sein Herz pochte, sein Mund war trocken. Langsam schüttete sie die Asche in ein Stück weißes Leintuch, reichte es ihm und gebot ihm majestätisch, ganz Königin des Sabbats: «Verstreue dies aus deinem Flugzeug im blauen Himmel über Italien, und wir werden siegreich sein, mein Liebster!» Da hob er sie hoch, umarmte sie wie von Sinnen vor Gier und bettete sie keuchend ins sonnenverbrannte Gras.
I m Januar 1916 verlor D’Annunzio bei einer Notlandung das rechte Auge und einen Teil des linken. Die Ärzte verordneten ihm Bettruhe bei völliger Dunkelheit. Für seine Rekonvaleszenz begab er sich in die Casetta Rossa, ein kleines Haus am Canal Grande direkt gegenüber dem Palazzo Venier dei Leoni. In den Archiven fand ich Hinweise darauf, dass Luisa sich zur selben Zeit in Rom den Arm brach und zur Erholung ebenfalls nach Venedig kam. Der Krieg hatte die Stadt geleert. Ich stelle mir vor, wie die beiden kranken Liebesleute sich per Gondel kleine Briefchen über den Kanal schickten. Zu dieser Zeit schrieb D’Annunzio Notturno , in dem er die Erinnerung an die strahlenden Feste seiner Coré beschwört.
Luisa pflegte weiter ihre Beziehungen zu den Futuristen, zu Marinetti sowieso, außerdem Boccioni, Aleksandr Archipenko und Giacomo Balla. Sie bestellte Arbeiten bei ihnen, ihr Porträt, doch auch zum ersten Mal Skulpturen und Gemälde, die nicht sie selbst zeigten. Stets auf neue Künstlerbekanntschaften begierig, lud sie Picasso zum Diner ein, konnte sich jedoch nicht für die kubistischen Frauenbildnisse des Spaniers begeistern. Sie empfing auch Isadora Duncan, die gegenwärtige Geliebte D’Annunzios.
Als gewissenhafte Biographin habe ich in Paris die Duncan-Retrospektive besucht. Auf einer Holzbank sitzend, blickte ich die Flucht der menschenleeren Museumssäle hinunter. In der Broschüre hieß es, sie sei die Begründerin des modernen Tanzes. In einem nur knapp einminütigen Stummfilm sah man sie, wie sie sich sacht in einem zu weiten Umhang drehte, die Arme gen Himmel erhoben. Ein kleiner
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