Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman
hatte aufgehört zu malen.
»Das ist Blödsinn«, hatte Anis gesagt, als sie davon erfuhr. »Sie werden doch diese Stadtlandschaft nicht menschenleer lassen. Die Seine, die Kais, die Gebäude – ohne Passanten, Polizisten oder Schwimmer, das ist trist.«
»Es gibt keine Schwimmer mehr in meiner Geschichte, ich habe es Ihnen doch schon so oft gesagt«, erwiderte Van und stöhnte. »Die junge Frau hatte das Wasser noch nicht berührt, da wurde sie auch schon vom Schutzmann aufgefangen. Sie schweben über den Dächern.«
»Das glaube ich Ihnen, wenn Sie sie gemalt haben.«
Und Van griff wieder zu den Pinseln.
Eines Abends, als sie von diesem und jenem gesprochen hatten, hatte Van müde gefragt: »Wann kommst du?«
Er hatte absichtlich du gesagt. Es war ihm durchaus bewusst, dass er damit provozierte, aber man muss wissen, was man will, sagte er sich, und er zum Beispiel wollte Anis einen Schubs geben, damit sie ihm in die Arme fiel.
»Ich weiß nicht«, hatte Anis gestottert. Weinend. Ohne ein weiteres Wort hatte sie aufgelegt. Van hatte nicht gewagt, gleich wieder anzurufen.
Von Zeit zu Zeit fragte sie nach den Fortschritten seines Wandgemäldes.
»Die Flügel sind gar nicht so einfach zu malen«, sagte er eines Abends.
»Lassen Sie die Flügel weg«, sagte sie. »Die beiden sind keine Engel.«
»Es ist so weit«, konnte er schließlich im April sagen. »Alle sind an ihrem Platz. Die junge Frau und der Schutzmann schweben im siebten Himmel, dessen Tönung gerade vom Grauen ins Rosafarbene übergeht. Die Menschen auf der Brücke sehen ihnen dabei zu. Sie haben alle den Kopf in den Nacken gelegt und lächeln. Ich habe mit dem letzten Bild begonnen, wie Sie sich wohl denken können.«
»Und die beiden vorherigen?«
»Ich habe keine Lust mehr, sie zu malen.«
»Was machen die beiden den ganzen Tag da oben zwischen Himmel und Erde?«
»Sie sprechen miteinander. Und wenn sie es nicht mehr tun, merken sie es gar nicht. Sie denken an das, was sie einander sagen wollen.«
»Duzen sie sich?«
»Noch nicht. Er möchte gern, aber sie ist da sehr zurückhaltend. Im Grunde ist es ihm nicht wichtig.«
Sie sprachen über Romane, Literatur und Dichtung. Bei diesen Themen hatte Van den Eindruck, dass sie ihm ohne Vorbehalte zuhörte.
Er schickte Anis Bücher. Sie las sie alle. »Ich setze keinen Fuß mehr nach Méribel«, sagte sie. »Auch nicht in irgendeinen anderen Wintersportort. Inzwischen glaube ich selbst, was ich früher immer behauptet habe, dass ich keine Lust habe, Skifahren zu lernen.«
Im Mai bemerkte Van ein Ungleichgewicht. Er bemerkte es mit Sorge. Immer war er derjenige, der anrief oder zurückrief. Anis blieb ihrem Versprechen treu, sie rief ihn morgens und abends an. Aber so, dass sie an seinen Anrufbeantworter geriet. Als wäre es ihr lieber so. Sie wusste, dass Van viel arbeitete, meist zu den üblichen Bürozeiten. Sie rief den Festnetzanschluss in seinem Atelier an, wenn sie relativ sicher sein konnte, dass er nicht da sein würde. Sie hinterließ fröhliche Nachrichten, die nichts über sie selbst enthielten. Irgendetwas hielt Ivan davon ab, sie zu bitten, sie möchte ihn doch auf seinem Handy anrufen – etwas wie die Furcht, ihr Ton könne dann weniger fröhlich sein.
Der Juni rückte näher. Van hatte nie wieder von Anis’ Umzug nach Paris gesprochen. Sie auch nicht.
23
D er Frühling wurde immer sommerlicher. Der Juni war strahlend. Van fand es durchaus schön, seinen Votiv-Pullover jetzt nur lässig über die Schulter gelegt oder um die Taille geknotet zu tragen: Er hatte sein Versprechen tagtäglich gehalten, der Pullover war jetzt an beiden Ellbogen durchgescheuert. Francesca hatte ihre Überwürfe und Stolen weggeräumt. In ihren leichten, schlichten, fast strengen Kleidern – sie trug nie gemusterte Sachen, hatte Van bemerkt, die Stoffe waren einfarbig und die Schnitte sehr einfach – wirkte sie noch größer. Sie hatte Beine wie ein junges Mädchen in ihren flachen Schuhen, wie ein dünnes junges Mädchen mit kaum entwickelten Waden.
»Ivan«, sagte sie eines Tages. »Die Buchhandlung ist sehr groß. Ich bin eine erbärmliche Verkäuferin. Ich habe nicht vor, jeden Tag in unserer Buchhandlung zu verbringen, sobald das Geschäft in Gang ist. Ich würde es nur zugrunde richten. Ich werde jemanden einstellen, der Ihnen hilft.«
Auch Van hatte darüber nachgedacht.
»Ich bin mir nicht ganz sicher«, sagte er. »Die Buchhandlung ist groß, aber so viele Bücher sind es nun auch
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