Der Zauber einer Winternacht
reichte.
Nach dem Essen verkündete John: „Ich freue mich, dass ihr mit den Büchern zufrieden seid. Ich würde liebend gern ein paar geschäftliche Dinge mit euch besprechen, aber jetzt bin ich zu müde und zu satt. Wenn es euch nichts ausmacht, gehe ich heute früh ins Bett, und wir können morgen über alles reden.“
„Natürlich, Dad.“ Insgeheim war Gillian ganz froh. Das stundenlange Brüten über den Bilanzen und die Bemühungen um einen Kompromiss, der sowohl ihre Schwestern zufriedenstellte als auch Rücksicht auf den Stolz ihres Vaters nahm, hatte ihr bohrende Kopfschmerzen eingetragen.
Sie begleitete ihn auf sein Zimmer, wo Padre auf ihn wartete. Dem alten Hund fiel es schwer, den Kopf zu heben, um sie zu begrüßen.
Nachdem sie ihrem Vater ins Bett geholfen hatte, musterte Gillian ihn sehr aufmerksam. Er war für sie immer ein Fels in der Brandung gewesen, aber jetzt nahm sie zum ersten Mal bewusst die Spuren wahr, die ein hartes und erfülltes Leben in seinem Gesicht hinterlassen hatte. Die Hände, die Padres Kopf tätschelten, waren von Altersflecken übersät und runzelig. Mit diesen Händen hatte er sie gehalten, als sie noch ein kleines Kind gewesen war. Mit diesen Händen hatte er sie getröstet, als sie seine Enkelin begraben hatten.
Plötzlich wurde sie von einem Gefühl tiefer Liebe zu diesem bemerkenswerten Mann überwältigt, der sich allein mit felsenfester Entschlossenheit und harter Arbeit ein kleines Reich geschaffen hatte.
„Habe ich dir eigentlich jemals gesagt, was du Großartiges geleistet hast?“, fragte sie. „All die Jahre hast du die Ranch bewirtschaftet und nach Mutters Tod ganz allein drei Kinder großgezogen.“
Ihr Vater schaute sie ob des unverhofften Lobes so verblüfft an, dass Gillian bedauerte, ihm nicht öfter gesagt zu haben, wie sehr sie ihn liebte und bewunderte. Sie war immer davon ausgegangen, dass er wusste, was sie für ihn empfand.
„Meinst du nicht, es ist an der Zeit, jemand anderem die Verantwortung für die Ranch zu übertragen?“, fragte sie leise. „Hast du noch nie in Erwägung gezogen, dir ein wenig helfen zu lassen?“
Er lächelte müde. „Doch. Gelegentlich. Weißt du, ich hatte ein gutes Leben und das große Glück, dass meine Arbeit mir immer Freude gemacht hat. Es gibt nur eine Sache, die ich manchmal bedaure: Ich habe keine Enkel, denen ich mein Erbe hinterlassen kann.“
Gillian wusste, dass er es nicht böse meinte, aber was er sagte, tat so weh, als hätte sie in Stacheldraht gefasst.
Wusste er denn nicht, dass sie ihm liebend gern ein Enkelkind geschenkt hätte? Sie senkte den Kopf, damit er ihr den Schmerz nicht ansah.
„Schlaf schön und träum was Süßes!“, sagte sie. Mit denselben Worten hatte ihr Vater sie stets zu Bett gebracht, bis sie dafür zu alt geworden war. Mit denselben liebevoll geflüsterten Worten hatte sie Nacht für Nacht Bonnie schlafen gelegt, solange es ihr vergönnt gewesen war.
Auf dem Weg zurück ins Haupthaus musste Gillian sich dagegen wehren, von Melancholie überwältigt zu werden. Im Wohnzimmer hatte Bryce inzwischen damit begonnen, eine Lichterkette zu entwirren, die sich scheinbar hoffnungslos verknotet hatte. Das hatte Gillian ganz vergessen: In zwei Tagen schon war Weihnachten, ob ihr nun weihnachtlich zumute war oder nicht!
Und es sah ganz und gar nicht so aus, als könnten sie wie geplant am nächsten Tag wieder abreisen. Sie hätte nie geglaubt, dass sie das Weihnachtsfest gemeinsam mit ihrem Exmann in ihrem Elternhaus verbringen würde. Aber der Gedanke daran verlor seinen Schrecken, verglichen mit der Aussicht auf ein einsames Weihnachten in ihrer ungemütlichen Stadtwohnung.
Eine bessere Gelegenheit, das Kriegsbeil zwischen ihnen zu begraben, würde sich so schnell nicht bieten, und Gillian packte die Gelegenheit beim Schopf: „Wie kann ich dir helfen?“
„Du könntest mir etwas zu trinken bringen, bevor ich mich mit dieser Lichterkette erhänge“, schlug Bryce vor.
Im Weinregal in der Speisekammer fand Gillian einen vielversprechenden Riesling, füllte zwei Gläser, nahm sie mit ins Wohnzimmer und reichte eines davon Bryce.
„Auf Weihnachten!“
Sie stießen miteinander an und nippten von dem wirklich ausgezeichneten Wein. Wenig später durchstöberte Gillian die Kartons mit Weihnachtsschmuck, die Bryce vom Speicher geholt hatte, und förderte einen Baumständer zutage.
Gemeinsam befestigten sie die Tanne in dem Ständer und stellten sie dann auf den Ehrenplatz vor
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