Der Zauber von Savannah Winds
Leben in Sydney organisierte sie gerade den Umzug in eine winzige Wohnung, die sie mit ihrer Freundin teilen würde. Bethany musste wohl oder übel einsehen, dass ihr kleines Mädchen schon eine Fremde war. Sie verstand weder Melanies scheußliche Musik noch deren fragwürdige Freunde. Sie wusste auch nicht, warum ihre Jüngste darauf bestand, sich so grauenvoll zu kleiden und zu schminken. Dabei hatte sie ihrer Tochter früher so nahe gestanden. Aber Melanie vertraute sich ihr nicht mehr an; sie wollte nicht mehr mit ihrer Mutter einkaufen oder in die Kirche gehen – ja, nicht einmal über ihre Pläne für Sydney sprechen. Sobald sie dort hingezogen wäre, würde die Verbindung abreißen und Bethany würde sie verlieren, wie sie all die anderen verloren hatte.
Bethany rieb sich über das Gesicht, holte tief Luft und stieg die Treppe hinauf, um sich in elegante Sonntagssachen zu kleiden. Es hat keinen Zweck, sich noch mehr herunterziehen zu lassen, dachte sie entschlossen, als sie Rock und Bluse vom Bügel nahm. Das Leben ist ein kostbares Geschenk Gottes, und ich sollte dankbar sein, dass alle vier gesund und ehrgeizig sind und keine Angst haben, flügge zu werden. Ich habe ihnen die bestmöglichen Vorraussetzungen mitgegeben und sie zu gesunder Arbeitsmoral und nach christlichen Werten erzogen. Clive hat recht. Am Ende gehen alle aus dem Haus – und so muss es auch sein.
Der federleichte Faltenrock spannte in der Taille, und Bethany hatte Schwierigkeiten mit dem Reißverschluss. Plötzlich wurde ihr heiß, und sie fragte sich, ob es das Wetter sei oder wieder eine lähmende Hitzewelle. Die nächtlichen Schweißausbrüche hatten in letzter Zeit zugenommen, und sie war erschöpfter als sonst. Vielleicht ist meine Leibesfülle ein weiteres Anzeichen für die Veränderungen, die mein Körper durchmacht, dachte sie matt, als sie die Seidenbluse anzog und am Hals eine Schleife band.
Säuerlich betrachtete sie die Matrone mittleren Alters, die ihr aus dem Spiegel entgegenstarrte. In Rock und Bluse wirkte sie fetter denn je, das Grau in ihrem welligen Haar trat plötzlich deutlicher hervor, und die zweckmäßigen Schuhe, die sie aufgrund ihrer geschwollenen Füße trug, betonten ihre Unansehnlichkeit nur noch.
»Kein Wunder, dass Clive zum Golfen geht«, murmelte sie vor sich hin und steckte Perlenstecker in die Ohrläppchen.
»Führst du Selbstgespräche, Mum?«
Lächelnd wirbelte Bethany herum. »Mel. Wie schön, dich zu sehen! Ich habe dich gar nicht kommen hören.« Doch ihre Freude verging angesichts des erschreckenden Aufzugs ihrer Tochter. Melanie war ganz in Schwarz gekleidet, angefangen von den bis zum Knie reichenden Stiefeln von Doc Martens, bis hin zu den Leggings, dem Minirock und dem zerfransten T-Shirt, das mit Sicherheitsnadeln zusammengehalten wurde. Eine ganze Reihe Ringe zierte ein Ohr, ein glitzernder Stecker ihre Nase, ein anderer die Oberlippe. Ihr Gesicht war weiß gepudert, und ihre stark geschminkten Augen und der schwarze Lippenstift verliehen ihr das Aussehen eines Zombies.
Bethany riss sich zusammen und nahm Melanie in den Arm in der Hoffnung, dass diese ihr den Schock und den Abscheu nicht angemerkt hatte. »Es ist so schön, dich zu sehen, Kleines!«, murmelte sie. »Komm, ich mach dir was zu essen. Du bist viel zu dünn.«
»Mir geht’s gut, Mum. Mach bloß keinen Aufstand!« Melanie befreite sich aus der Umarmung und ließ sich auf das ordentlich gemachte Bett fallen. Die lebhaften orange-roten Strähnen in ihrem Haar glitzerten in der Sonne, die durch das Fenster drang. »Ich bin nur hier, um ein paar Sachen zu holen.« Sie warf einen Blick auf die Kleidung ihrer Mutter und verdrehte die Augen. »Gehst du aus?«
»Ich kann absagen«, versicherte Bethany ihr rasch. »Margot hätte nichts dagegen.«
»Mein Gott«, stöhnte Melanie. »Du gehst doch nicht etwa zu Großvater?«
»Nimm den Namen Gottes nicht sinnlos in den Mund, Melanie«, erwiderte sie barsch. »Und ja, ich war auf dem Weg, aber da du hier bist, kann ich anrufen und absagen.«
»Mach dir meinetwegen keine Umstände!« Mel erhob sich vom Bett und betrachtete sich im Spiegel auf der Frisierkommode. »Ich wollte sowieso nicht lange bleiben. Du weißt doch, Tante Margot kann es nicht ausstehen, wenn du kneifst.« Sie richtete ihren Nasenstecker, worauf Bethany zusammenzuckte, und wandte sich mit zaghaftem Lächeln vom Spiegel ab. »Hab noch tausend Sachen vor, Leute treffen und so.«
Das ging mir auch mal so, dachte
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