Der Zauberer von Linn
gestanden hatte, ging zum nächsten Stuhl und setzte sich. Dann schwieg er lange.
Er betrachtete das Mädchen mit verwunderten Augen und bemühte sich, den Aufruhr in seinem Innern zu besänftigen. Wenn er jetzt spräche, würde seine Stimme zittern, das wußte er mit sicherem Instinkt. Dieses junge Mädchen gehörte zu einer Kaste von Linn, zu der er niemals gewagt hätte, sich Zutritt zu verschaffen. Ihre Familie und ihre gesamte Gesellschaftsschicht waren bisher immer bestrebt gewesen, ihn und seine Zugehörigkeit zur Familie des Lordführers zu ignorieren. Die Tatsache, daß ein Mädchen ihres Standes ihn zu heiraten wünschte, bewies ihm, daß sie durch ihn zu Macht und Einfluß gelangen wollte. Die Geschehnisse dieser Nacht würden sie eines Besseren belehren. Immerhin durchbrach sie mit ihrer Handlungsweise die starke gesellschaftliche Opposition, die sich ihm bisher entgegengestemmt hatte. Politisch gesehen könnte das sehr wertvoll für ihn sein.
Clane fühlte sich jetzt nicht in der Lage, eine endgültige Entscheidung zu fällen. Er rief den wachhabenden Offizier zu sich.
»Bringen Sie Lady Madelina Corgay in eines unserer Fremdenzimmer. Sie wird bis auf weiteres unser Gast sein. Tragen Sie Sorge dafür, daß sie wohl bewacht wird.«
Ohne ihre Entgegnung abzuwarten, begab er sich zu Bett. Er konnte lange nicht einschlafen. Endlich faßte er den Entschluß, morgen den Zentralpalast in Linn aufzusuchen, um das Monstrum, das Czinczars Barbaren mitgebracht hatten, näher in Augenschein zu nehmen.
Er mußte genau wissen, wie der tödlichste Feind der Erde physikalisch beschaffen war.
9.
Lord Clane erwachte erst am späten Vormittag. Aus der Ferne hörte er Gesang und erinnerte sich der Tatsache, daß ja heute der neue Lordführer seinen Einzug in die Hauptstadt hielt und daß ein großes Fest veranstaltet wurde.
Er frühstückte hastig und bestieg dann das kleine Patrouillenboot, das ihn zum Palast bringen sollte. Aber als sie über dem Vorplatz niedergehen wollten, sahen sie, daß sich dort eine große Menschenmenge drängte.
»Lande in einer Seitenstraße«, befahl Clane dem Piloten. »Wir werden den Rest des Weges zu Fuß gehen.«
Sie landeten ohne Zwischenfall und schlängelten sich dann durch die Tänzer und Musikanten. Männer und Frauen tobten ausgelassen durch die Gassen und Straßen. Helle und rauhe Stimmen vermengten sich zu fröhlichem Gesang. Erwachsene Menschen gebärdeten sich wie Kinder, um ihren Regenten willkommen zu heißen, der selbst kaum den Kinderschuhen entwachsen war und dessen einzige Qualitäten darin bestanden, der Sohn des großen Lord Jerrin zu sein.
Lord Clane gelangte unbelästigt und ohne erkannt zu werden bis zum Vorplatz des Palasts. Hier gellte plötzlich eine Stimme durch den allgemeinen Trubel.
»Da geht der verfluchte kleine Priester!«
Weitere Schmährufe ertönten aus der Menge.
»Teufel ... Mutant ... Teufelspriester!«
Niemand sang mehr. Eine unheilvolle Stille breitete sich aus. In Clanes Nähe rief jemand:
»Das ist Lord Clane, der Mann, der für all unsere ausgestandenen Schrecken verantwortlich ist!«
Der Offizier der Wache gab seinen Männern einen Wink und griff zum Schwert. Clane bedeutete ihnen jedoch, sich ruhig zu verhalten. Mit einem erzwungenen Lächeln trat er vor und hob einen Arm. Laut rief er aus, daß man es weithin hören konnte:
»Lang lebe der neue Lordführer Calaj!«
Gleichzeitig griff er in die Tasche und nahm eine Handvoll Silbermünzen heraus, die er hoch in die Luft warf. Das Metall glitzerte in der Sonne, ehe es verstreut zu Boden fiel. Noch bevor es landete, warf er eine zweite Handvoll unter die gaffende Menge.
Und noch einmal rief er, diesmal mit zynischem Unterton:
»Lang lebe der neue Lordführer Calaj!«
Aber niemand hörte ihm mehr zu. Kreischend stürzten sich die Leute auf den Silberregen und balgten sich um die einzelnen Geldstücke. Clane und seine Männer konnten unbehelligt ihren Weg fortsetzen. Und hinter sich hörten sie noch immer die Schreie und das Gezanke um die Münzen.
Der Zwischenfall verbitterte Clane. So also mußte man den Mann von der Straße behandeln, um ihn für sich zu gewinnen? Er erinnerte sich daran, was Czinczar gesagt hatte. Nein, es mußte einen anderen Weg geben, den Menschen klarzumachen, daß ihre Schicksalsstunde hereingebrochen war, daß jeder einzelne seine persönlichen Ambitionen hintanstellen mußte, um gemeinsam den Feind anzugehen und das Menschengeschlecht vor dem
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