Der Zauberspiegel
abziehen würden oder die Auserwählte tot wäre, sei es durch einen Anschlag oder durch Altersschwäche.
Juliane blinzelte, als ihr eine Flocke ins Auge fiel. Scheißkälte! Das Heulen und Brausen des Windes machte ein Gespräch schier unmöglich. Dennoch unterhielt sich Elyna, ihren Kopf an den Hals ihres Pferdes gepresst, mit ihrem Vordermann Rael. Juliane versuchte, sich zitternd tiefer in ihren wollenen Mantel zu kuscheln. Frustriert musste sie erkennen, dass es ihr nicht möglich war, mehr Wärme zu erringen. Ihre Finger froren zu steifen Klauen und die Tränen, die der Wind und die Kälte ihr in die Augen getrieben hatten, gefroren auf ihren Wangen.
Juliane blickte sich um und musterte Moira, die würdevoll in einen weißen Wollburnus gehüllt im Sattel saß. Die weise Zauberin zeigte nicht einen Anflug von Frösteln. Hinter ihr ritt Aran mit bewegungsloser Miene, aber einem so unglücklichen Blick, dass Juliane einen Stich in ihrem Herzen verspürte. Was mochte Aran wohl gerade denken?
Ein schwarzer Marmorengel kam ihr plötzlich in den Sinn, ihr Freund wirkte wie eine aus Stein gehauene Figur. Dabei konnte er so voller Leben, voller Leidenschaft sein. Unwillkürlich schlugen ihre Gedanken eine ganz andere Richtung ein und sie erinnerte sich an Arans hungrigen, leidenschaftlichen Blick, als er sie, eben aus tiefstem Schlaf erwacht, gemustert hatte. In diesem Moment hätte eine Geste, ein Wort ausgereicht, dass Juliane sich in seine Umarmung begeben hätte, sich dessen sicher, dass es das Richtige war.
Sie überlegte, wie sich seine nackte Haut anfühlen würde, wie, wenn sie mit ihren Fingern über seine Narben fahren und … Erschrocken hielt sie inne. Schamröte stieg in ihr auf und sie wandte den Blick ab. Sie hatte ihre Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet und hoffte, dass er es nicht bemerkt hatte, dass er nicht in der Lage gewesen war, ihre Gedanken zu erfassen. Hitze kroch in ihr empor und mischte sich mit dem Kribbeln, das sie von den Zehen bis zum Haarschopf erfüllte und die Kälte vergessen ließ.
Verstohlen warf sie einen Blick in die Runde, um zu sehen, ob jemand sie beobachtet hatte. Wie schon viele Male zuvor, verfluchte sie ihr mangelndes Talent, Gefühle zu verbergen. Jeder, der sie nur ein bisschen kannte, las in ihrem Gesicht wie in einer Landkarte.
Juliane seufzte und prompt wehten ihr ein paar Schneeflocken in den Mund.
Ranon hatte gemeint, der Winter bräche dieses Jahr früh über das Land herein, nur ein paar Wochen und Schnee und Eis hätten auch das Tal erreicht. Juliane hatte keinerlei Gespür für den Jahreszeitenwechsel und noch weniger Ahnung von solchen Dingen. Sie verließ sich in diesen Angelegenheiten ganz auf die anderen. Aber auch ohne Kenntnisse von Wetter und Temperaturlagen ahnte sie, dass ihnen die Zeit davonrannte. Ein Gefecht im Winter bei Schnee und Eis oder die Belagerung einer Burg oder Stadt verliefe gerade für die Angreifer verhängnisvoll.
Die letzten Stunden war es unmerklich wärmer geworden. Zwar stieß der Atem immer noch in kleinen Dampfwolken hervor, doch die Erde bekam eine weiche, schlammige Konsistenz. Die Pferde hinterließen tiefe Spuren im Matsch und der Marsch durch derartiges Gelände erschöpfte auch die Tiere.
Juliane glitt müde und mit steifen Gliedern vom Rücken ihres Pferdes und Staubwolke wieherte dankbar.
Sie dehnte ihre Muskeln und musterte ihre Umgebung. Bis ins Bergesvorland hatte der Winter seine eisigen Finger ausgestreckt. Die Temperatur erwies sich zwar als angenehmer als in den Gebirgsregionen, doch ein rauer Wind strich über das Land. Die Laubbäume und Sträucher hatten ihre Blätter verloren und die Blumen waren zu unansehnlichen, braunen Überresten zusammengeschrumpelt.
Eine Hand legte sich auf ihre Schulter und sie sah in Kaliras grinsendes Gesicht, das die Kälte mit einer rosigen Farbe überzog.
»Alles in Ordnung?«, fragte Kalira.
»Natürlich, mir ist …«, begann Juliane, hielt aber inne. Wenn sie jetzt erklärte, ihr wäre kalt, würden sofort ein paar Leute aufspringen und ihr die eigenen Mäntel anbieten, ungeachtet dessen, dass sie selbst dann mehr frören. Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Alles bestens«, erklärte sie und stupste Kalira an. »Komm, es gibt Arbeit.«
Da die Rebellen in aller Eile aufgebrochen waren, hatten sie nur das Nötigste mitgenommen. Einen Großteil hatten sie auf den Rücken einiger klappriger Packesel verstaut, den Rest in den Satteltaschen der Pferde. Dank der
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