Der Zauberspiegel
damit, sie sei tot?
»Alys hat sich für mich geopfert!« Ihr kam Galle hoch. Sie hatte geglaubt, Alys hätte ihre Kleidung vielleicht stehlen wollen. Aber sie hatte sie angezogen, um die Soldaten in die Irre zu führen. Deshalb war sie getötet worden. Ihretwegen. Die Erkenntnis war wie ein brutaler Schlag in den Magen.
Ranon sah sie an. »Sie war die Erste, die das Zeichen gesehen hat. Alys hat an dich geglaubt.« Er streckte seine Hände nach ihr aus.
»Sie hat an ein Märchen geglaubt«, fauchte sie und schlug Ranons Hände beiseite.
»Juliane«, bat er mit schmerzerfülltem Blick. Zum ersten Mal konnte sie hinter seine Fassade sehen. Er mochte ein Kämpfer sein, doch er besaß ebenso wie sie Gefühle. Gefühle, die sich durch seine Seele fraßen und nur durch die Hoffnung, durch den Glauben an eine bessere Zukunft erträglich waren. Es gelang ihm, sie kurz an sich zu ziehen. Sie kämpfte gegen seine Umarmung an. Es war zu viel. Viel zu viel, sie ertrug in diesem Moment alles, nur keine körperliche Nähe. Sie machte sich frei.
»Hör auf! Ich glaube nicht an mich. Ich glaube auch nicht an eure Prophezeiung. Verstehst du?«
»Das musst du nicht. Wir glauben für dich«, entgegnete er. Sein Pferd tänzelte unruhig und er tätschelte den Hals des Tieres. »Du ahnst nicht, wie sehr wir dich brauchen. Jahrelang hatten wir nichts außer der Hoffnung auf dein Erscheinen, die uns Mut gab.«
»Und jetzt bin ich da, ein mageres, hilfloses Ding, das sich die Seele aus dem Leib kotzt vor Angst. Echt krass.«
»Mach dich nicht kleiner als du bist. Die Götter muten dir nicht mehr zu, als du zu ertragen vermagst«, versicherte er. »Das Symbol kennzeichnet dich und jeder, der es sieht, weiß wer und was du bist.«
»Eure Götter können mich mal«, schrie Juliane und wischte zornig eine eigenwillige Träne aus ihrem Gesicht. Diese Götter hatten sie markiert wie ein Scheißköter seinen Lieblingsbaum.
Am liebsten hätte sie ihr Pferd herumgerissen und wäre in die nördlich gelegenen Elfenwälder zurückgaloppiert, dorthin, wo sie in dieser Welt erwacht war. In der Dunkelheit fände sie jedoch nicht dorthin. Also reichte sie Ranon die Zügel. »Wie finde ich Kuri und Vendell?«
Juliane prägte sich Ranons Wegbeschreibung ein.
»Wirst du dorthin finden?«, fragte er.
Sie nickte. »Viel Glück, Ranon«, wünschte sie. Sie wollte noch so viel mehr sagen, doch ihr saß ein dicker Kloß im Hals. Er hatte so viel mehr verdient, doch das Chaos in ihr war zu groß, um ihre Furcht zu offenbaren.
»Dir auch, wir treffen uns im Lager der Rebellen.«
Sie schaffte es, ihm ein zittriges Lächeln zu schenken.
Ranon schwang sich elegant aufs Pferd und preschte davon. Sie sah ihm nach, bis die Dunkelheit ihn vollends verschluckt hatte.
Juliane glaubte, eine Ewigkeit gewandert zu sein, als sie endlich den Bauernhof von Kuri und Vendell hinter den Hügeln auftauchen sah. Sie war erschöpft, doch die Bilder der vergangenen Tage hatten sich in ihr Gedächtnis eingebrannt und ließen sie nicht zur Ruhe kommen. Der süßliche, ekelhafte Geruch von Blut und Tod schien sich in ihre Kleider und in ihr Herz gefressen zu haben. Sie rieb über die Blutflecken. Übelkeit stieg in ihr auf. Sie würgte und sank auf die Knie. Ihre Augen brannten, als sie sich keuchend übergab. Nicht zum ersten Mal.
Zitternd hockte sie auf der Erde. Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und wartete, bis sich ihr rebellierender Körper beruhigte. Erst dann erhob sie sich und setzte ihren Weg fort.
Das Anwesen kauerte wie eine fette Katze in der Landschaft. Die Fenster der Häuser waren dunkel. Die Bewohner schienen tief und fest zu schlafen und auch Juliane sehnte sich nach ein paar Stunden Ruhe. Sie vernahm leises Grunzen und ein großes Tier regte sich im Dunkeln. Vereinzelt gackerten Hühner.
Automatisch lief sie auf die Scheune zu. Das Tor schwang sofort auf, nachdem sie es angestupst hatte.
Im Inneren des Schobers herrschte angenehme Wärme. Im Licht des Vollmondes erkannte sie einen Karren, dessen Vorderrad zerbrochen war. Einige Werkzeuge befanden sich in einer anderen Ecke. Sie kletterte die Leiter hinauf zum Heuboden.
Im Schutz des Heus rollte sie sich zusammen und schlief sofort ein.
Die Heere standen sich gegenüber.
Weibliche Krieger gegen männliche. Eine fast unheimliche Stille lag über dem Tal.
Mittendrin stand Juliane.
Sie sah sich einem Mann gegenüber, der sie zärtlich umarmte. Obwohl er ihr so nah war, konnte sie
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