Der Zauberspiegel
habe und ich bin so wütend auf diesen Kerl! Er hätte uns ohne mit der Wimper zu zucken getötet. Er hat mich gezwungen, ihm das anzutun.« Sie holte Luft und zitterte, bevor sie gestand: »Kalira, ich habe Angst. Ich bin keine Kriegerin.«
Kalira drückte ihre Freundin an sich. »Das ist in Ordnung. Weißt du, ich habe auch Angst. Ich bin lange nicht so mutig wie du. Ich wäre an deiner Stelle vermutlich vor Furcht gestorben.« Sie schwieg einen Moment. »Jeder hat irgendwann einmal Angst. Die Furcht zu überwinden, macht dich zur Kriegerin, nicht deine Furchtlosigkeit.«
Juliane fuhr sich über das Gesicht. Aber wie sollte sie ihre Angst vor sich selber, vor dem, was sie getan hatte, überwinden? Wie die Furcht vor dem, was sie in der Lage war zu tun? Sie wagte nicht, Kalira das zu fragen. Juliane rang ihre Emotionen nieder und drückte Kalira kurz an sich. »Danke.« Juliane fühlte, dass zwischen ihnen eine besondere Beziehung herrschte. Ein starkes Band. Eine Verbindung, mächtig genug, allem Bösen zu trotzen und Zeiten und Welten zu überdauern.
5. Kapitel – Offenbarungen
U ngeduldig lief Juliane auf und ab. Sie fluchte leise. Unter jedem ihrer Schritte knirschte Schnee und ihr Atem gefror zu weißen Nebelwolken. Hin und wieder blieb sie stehen und versuchte, ihre klammen Finger durch aneinanderreiben und anhauchen zu erwärmen.
Sie hatte die Weisung erhalten, nachmittags vor den Höhlen auf ihren Lehrmeister Brack zu warten. Sie bezog pünktlich Stellung, doch Brack ließ sich nicht blicken. Neugierig, etwas über den geheimnisvollen Krieger herauszufinden, hatte sie in den vergangenen Tagen die anderen Bewohner der Höhlen befragt. Aber alles, was ihr diese sagen konnten oder wollten, war, dass Brack die Tage meist in seiner Kammer verbrachte. Nur im Sommer verließ er das Versteck für ein paar Wochen, um völlig erschöpft zurückzukehren, doch niemals erfuhr jemand, wohin es ihn in dieser Zeit trieb.
»Eine Minute! Ich warte noch eine Minute!« Wütend, weil sie scheinbar einfach versetzt wurde, stapfte Juliane umher. Dabei trat sie auf eine gefrorene Stelle und verlor prompt das Gleichgewicht. Unsanft fiel sie auf ihr Hinterteil und machte der Wut über ihre Ungeschicklichkeit mit zahlreichen, saftigen Ausdrücken Luft. Hinter ihr erklang das heisere Lachen eines Mannes.
Sie drehte sich um. Wie lange beobachtete er sie bereits? Sie musterte das Gesicht. Dort, wo die Lippen sein sollten, prangte ein Schlitz, der sich langsam zusammenpresste. Ein unförmiger Fleischklumpen stellte die Nase dar. Das linke Auge war klein und wimpernlos, während das rechte groß und mit wundervollen, schwarzen Wimpern umrahmt war. Obwohl Juliane es aus dieser Entfernung nicht beschwören konnte, war sie sicher, dass die Augen Bracks violett leuchteten.
»Wie lange stehst du schon da?« Sie war noch nie einem verunstalteten Menschen begegnet, doch sie dachte sich, dass es am besten wäre, so zu tun, als wäre an seinem Aussehen nichts Besonderes. Darüber hinaus brodelte in ihr der Zorn, sodass sie keine Lust verspürte, Feingefühl an den Tag zu legen. »Ich kann es nicht ausstehen, beobachtet zu werden!«
Brack wirkte amüsiert, als er näher trat. Sie ist zwar nicht groß und stark gewachsen, aber immerhin scheint sie nicht auf den Mund gefallen zu sein.
Juliane runzelte die Stirn. Er hob ihr Kinn hoch und starrte sie an. Dieser Kerl war wirklich unverschämt! Erst jetzt erkannte sie, dass sein gesamtes Gesicht vernarbt war.
»Ziemlich klein und schwächlich«, brummte er. »Um aus dir eine Kriegerin zu machen, brauche ich Jahre!« Er seufzte.
Juliane entriss ihr Kinn seinem Griff. »Was soll das?«
Der Krieger packte ihren Arm und befühlte ungerührt ihren Bizeps. Er schüttelte den Kopf. »Kaum Muskeln.«
Wütend riss sie ihren Arm los und starrte Brack an. »Willst du meine Zähne auch noch sehen?«
Brack hob erstaunt eine Augenbraue. »Wenigstens scheinst du über ein Mindestmaß an Temperament zu verfügen«, meinte er gelassen und rieb sich das Kinn. »Folge mir.«
»Wohin?«
»Ich teste deine Ausdauer.«
Trotzig blieb sie stehen. Für wen hielt er sich?
Brack blickte sich um. »Was ist mit dir?«
»Du kannst mich trainieren, mich von mir aus auch hart rannehmen, bis meine Muskeln flattern. Aber ich denke nicht dran, mich von dir herumkommandieren zu lassen! Ein Bitte schadet dir nicht.«
Der Krieger runzelte die Stirn. »Wenn du etwas lernen willst, tust du, was ich dir sage,
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