Der Zauberspiegel
Torus lenkten ihre Pferde neben Kaliras. Diese wühlte in ihren Satteltaschen – ohne Erfolg. Das Schmuckstück war verschwunden.
»Ich habe sie bestimmt auf der Lichtung verloren! Ich muss zurück und suchen«, sagte sie und machte Anstalten zu wenden.
»Ist die Kette denn so wichtig?«, fragte Juliane, weil Kalira sich benahm, als hinge ihr Leben davon ab.
»Sie ist das Insigne der königlichen Familie. Es gibt nur zwei derartige Anhänger: den des Königs und den Kaliras. Wenn ein Soldat die Kette findet, weiß er sofort, dass Moiras Prophezeiung in Erfüllung gegangen ist, denn nur aus diesem Grund wagt die Prinzessin das Morvannental aufzusuchen«, erklärte Ranon.
»Was sollen wir tun?« Kaliras Miene drückte Entsetzen aus.
»Nichts«, sagte Torus in gebieterischem Tonfall. »Wir können im Augenblick gar nichts tun. Wenn wir umkehren, laufen wir den Soldaten direkt in die Arme.«
Kalira stöhnte auf.
»Sie muss nicht zwangsläufig von den Schwarzen gefunden werden. Wenn wir Moira befreit haben, suchen wir deine Kette, in Ordnung?«, fügte Torus freundlicher hinzu.
Kalira brummte etwas Unverständliches vor sich hin, wagte aber nicht zu widersprechen. Juliane konnte ihre Sorge verstehen. Wie sollten sie in dem ganzen Gestrüpp einen Anhänger, selbst einen wuchtigen wie Kaliras, wiederfinden? Vorausgesetzt, sie fanden überhaupt den richtigen Platz.
*
Aran ließ seinen Blick über die Lichtung schweifen. Er hätte schwören können, dass er hier gerade noch Stimmen gehört hatte.
»Nun, wo sind sie jetzt?«, fragte Kael spöttisch.
»Hier war jemand«, knurrte Aran und ballte seine Hände zu Fäusten. Zu gern hätte er dem verdammten Kerl seinen Stahl zu schmecken gegeben, doch dann wäre seine Tarnung aufgeflogen. Das konnte er nicht riskieren. Er bemerkte eine verdeckte Feuerstelle, zog den rechten Handschuh aus und berührte die Asche, sie war noch heiß.
Aran wischte die rußgeschwärzte Hand im feuchten Gras ab und streifte seinen schwarzen Handschuh wieder über. Er richtete sich auf.
Kael hatte währenddessen im hohen Gras etwas entdeckt. Er bückte sich danach. »Schau dir das an!« Kael hielt eine Kette hoch. Das daran hängende goldene Medaillon in Form einer Sonne baumelte leicht hin und her, und sein matter Glanz erzählte von den Abenteuern längst vergessener Könige. »Denkst du dasselbe wie ich?«, fragte Kael und in seine Augen trat ein bösartiger Glanz.
Aran nickte. Er bezweifelte lediglich, dass ihre Pläne übereinstimmten. Aran näherte sich und Kael ließ ihn arglos neben sich treten. Blitzschnell zog Aran seinen Dolch und stieß ihn Kael seitlich in den Hals. Blut schoß hervor und der Todesreiter kippte um. Roter Lebenssaft versickerte in der Erde, während der sterbende Körper zuckte.
Aran bückte sich, wischte die Klinge im Gras ab und steckte das Messer ein. Er nahm das Medaillon an sich und hob es ins Licht. Ihm schien, als habe er Ewigkeiten auf diesen Moment gewartet. Und wahrscheinlich war es auch so.
*
Kalira rutschte auf ihrem Sattel hin und her und die Unruhe übertrug sich auf ihren Wallach, der nervös zu tänzeln begann.
Der Abend senkte sich über das Land und die untergehende Sonne färbte ein sattes Orange an den stahlblauen Himmel. Vereinzelte Strahlen durchbrachen das dichte Blätterdach und schienen neckisch auf und ab zu hüpfen.
»Da vorn ist eine Lichtung. Dort können wir über Nacht rasten«, bestimmte Torus.
Die Sonne ging gerade erst unter, doch im Wald herrschte bereits finsterste Nacht. Mit ihr kamen die Raubtiere aus ihren Verstecken, um auf der Suche nach ahnungsloser Beute das Dickicht zu durchstreifen. Kalira fühlte sich mit jedem Tag unwohler.
Der Mond stand hoch über dem Morvannental und ergoss sich in blauem Licht über ihr Nachtlager.
Kalira fand keinen Schlaf und starrte gedankenverloren ins Lagerfeuer. Den ganzen Tag war sie von Unruhe geplagt worden. Ein paar Stunden Ruhe halfen ihr vielleicht, sich wieder in den Griff zu bekommen.
Aus dem Unterholz drangen das Knacken trockener Äste und das Schreien wilder Tiere. Kalira griff nach einem Stock und stocherte im Lagerfeuer herum, als sie Schritte hinter sich vernahm.
»Du schläfst noch nicht?« Ranon, wer sonst?
»Nein.«
Ranon setzte sich neben sie ans Feuer. »Du machst dir Sorgen wegen deiner Kette, nicht wahr?«
Kalira nickte. »Sie ist nicht nur ein seltenes Schmuckstück, sie ist auch das letzte Geschenk meines Vaters, bevor er verschwand.«
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