Der Zauberspiegel
Morvannen redeten nicht über solche Dinge. Zumindest nicht mit uns Weißen.«
Die vier lenkten ihre Pferde aus dem Wald hinaus auf den Weg. Die Straße war steinig, aber breit genug, um von einem Ochsenkarren befahren zu werden. Den Wegrand säumten Nachtschattengewächse, fremdartige Büsche, Laub- und Nadelbäume, deren Stämme an der Nordseite mit dicken Moosschichten bewachsen waren.
Ein exotischer Vogel mit schreiend buntem Gefieder hüpfte, schmatzende und gurgelnde Geräusche von sich gebend, über den Weg.
Juliane ließ ihr Pferd zurückfallen, bis sie neben Kalira ritt. Kalira bedrückte seit einigen Tagen etwas und das sah man ihr an. Sie wirkte rastlos und schlief wohl auch schlecht, denn Juliane bemerkte, dass sie sich nachts herumwälzte. »Ist alles in Ordnung mit dir?«
Kalira machte eine unbestimmte Kopfbewegung.
»Hast du Streit mit Ranon?«, erkundigte sie sich weiter. Plötzlich erinnerte sie sich, wie seltsam sich die beiden verhielten. Hatten Kalira und Ranon vorher fast ständig gestritten, so wichen sie den Blicken des anderen aus, als wüssten sie nicht, wie sie sich verhalten sollten.
»Wie kommst du auf diese Idee?« Es klang ziemlich sarkastisch.
»Es ist nur ein Gefühl.« Sie musterte Kalira aufmerksam.
»Wir haben keinen Streit, wir verstanden uns noch nie so gut wie die letzten Tage.« Juliane nahm Kaliras Ausflüchte stillschweigend hin. Zwischen den beiden war etwas vorgefallen und es bedrückte sie, dass es weiterhin Konflikte zwischen ihren besten Freunden gab.
Der Weg beschrieb einen großen Bogen und plötzlich wurde das Gefühl der Vorahnung in Juliane so stark, dass sie unkontrolliert zu zittern begann. Ihr Herz raste, kalter Schweiß brach ihr aus. Einen Moment glaubte sie, eine silberne Schnur durch die Luft wabern zu sehen. Es drängte sie danach, das silbrige Band zu berühren, ihrem Drängen nachzugeben. Die Silberschnur glich konzentriertem Licht, einer so stark zusammengepressten Helligkeit, dass es stofflich wirkte. Glitzer schwebte und umflirrte das Band. Je länger Juliane darauf starrte, umso stärker zog es sie an. Es lockte sie auf süße, quälende Weise. Mit aller Macht riss sie ihre Aufmerksamkeit los, zwang sich, die Finger bei sich zu behalten. Der Gedanke an das, was passieren würde, gäbe sie dem Drängen nach, ängstigte sie. Instinktiv ahnte sie, dass die Silberschnur alles verändern würde. Julianes Leben würde nie wieder so sein wie vorher, und obwohl sie nicht wissen konnte, ob es gut oder schlecht sein würde, ließ Furcht sie zögern.
Sie wich zurück, blinzelte und erkannte, dass die Schnur sich auflöste. Nicht jedoch die Panik, die immer noch ungehemmt durch ihren Körper wogte. Sie versuchte zu sprechen, doch ihre Zähne schlugen so heftig aufeinander, dass sie keinen Ton hervorbrachte.
Kalira ergriff die Zügel ihres Pferdes und redete mit Juliane, doch sie verstand nichts. Torus’ und Ranons Gesichter tauchten vor ihr auf wie schemenhafte Fratzen, die ihr fremd schienen. Selbst ihre Stimmen wirkten ihr unbekannt und ihre Worte klangen für sie kryptisch. Sie hob die Hand und deutete heftig zitternd in die Richtung, in die sie sich bewegten, ohne zu wissen, warum sie dorthin zeigte. Schlagartig verließen sie die mysteriösen Empfindungen und alles wirkte wieder normal.
Juliane wischte sich den Schweiß von der Stirn und flüsterte: »Wir müssen weg hier.« Das Gefühl der Bedrohung blieb unverändert stark. Aus einer unbekannten Quelle stieg das Wissen in ihr empor, dass an diesem Ort Gefahr heraufzog. Zu spät. Die Erkenntnis traf sie im selben Moment wie eine Ohrfeige.
»Wen haben wir denn da?«, höhnte eine Stimme mit bösartigem Triumph.
Kalira und Ranon rissen die Pferde herum, ihre Hände flogen an die Knäufe ihrer Schwerter. Eine Gruppe Todesreiter umringte sie.
»Legt eure Waffen beiseite und ergebt euch! Ihr könnt uns nicht entkommen«, befahl der Hauptmann.
»Eher sterben wir«, rief Kalira zornig.
Trotz der Gefahr, trotz der Todesangst, die in Juliane wütete, konnte sie sich des Respekts nicht erwehren, den Kaliras Mut in ihr hervorrief. Torus legte Juliane beruhigend die Hand auf die Schulter.
Die Schwarzen saßen bewegungslos auf ihren Pferden. Juliane war sicher, dass sie sich nicht eher rühren würden, bis es ihr Anführer befahl.
»Sterben müssen wir alle einmal«, erklärte dieser an Kalira gewandt. Hinter seinem Visier waren weder Gesicht noch Haare zu erkennen. »Aber es kommt auf die Art und
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