Der Zauberspiegel
Sie kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen an.
»Ich weiß«, erwiderte Ranon sanft.
Überrascht blickte Kalira auf. »Woher?« In der Dunkelheit verschwammen Ranons Umrisse, doch seine blauen Augen leuchteten beinahe. Er hob seine Hand und Kalira hielt den Atem an, doch er berührte sie nicht, sondern fuhr sich durch das Haar.
»Ich war dabei, als dein Vater sie dir gab.«
»Ich kann mich nicht mehr daran erinnern«, gestand sie.
Die beiden schwiegen. In der Ferne schrie ein Käuzchen, ein leichter Wind rauschte durch die Bäume.
»Es war ein Fehler, das Rebellenlager zu verlassen«, meinte Ranon nach einer Weile.
»Du hast das getan, was du für richtig hieltst und den Rebellen damit geholfen«, rutschte ihr das heraus, was sie schon immer an ihm bewundert hatte. Seine Stärke. Seinen Mut. All das machte ihn aus und zu einem guten Menschen. Vielleicht, wenn er sie mit seinen Worten nicht zutiefst verletzt hätte, hätte sie sogar verstanden, weshalb er sie nicht hatte dabeihaben wollen.
Überraschung lag in Ranons Blick, als er sie nun musterte.
Sie biss sich auf die Lippen, wie hatte sie ihm nur ein Kompliment machen können? Wieder verstummten sie für eine lange Zeit und erneut brach Ranon das Schweigen.
»Du magst mich also doch ein bisschen«, sagte er. Zärtlich fasste er nach ihrem Kinn und drehte ihr Gesicht zu sich.
»Ich … ich«, stammelte sie. Mit einem Mal war Ranons Mund ihrem ganz nah. Hitze und ein seltsames Kribbeln überkamen sie. Schmetterlinge flatterten aufgeregt durch ihren Bauch und ihr Herz klopfte wie wild. Sie ertappte sich bei dem unsinnigen Wunsch, von Ranon geküsst zu werden.
Seine Lippen schwebten nur wenige Millimeter über ihren, als sie ihren Kopf zur Seite drehte und aufstand. »Gib mir Zeit«, bat sie und ihre Stimme brach beinahe. »Vielleicht liegt es am Vollmond, dass ich einen Moment lang dachte …« Sie verstummte.
Ranon erhob sich. Seine Hand berührte sie kurz und sacht an der Schulter. »Ich weiß«, murmelte er. Er schien zu zögern, dann drehte er sich um. »Ich hoffe, es ist nicht zu spät.«
Kalira zögerte, erforschte ihr Innerstes und ließ wertvolle Momente verstreichen.
Ranon hatte seine Decke genommen und sich bei Torus und Juliane niedergelegt. Kaliras Herz brannte, aber sie wollte es Ranon nicht so einfach machen. Zu tief hatte er sie verletzt und er verdiente einige Tage lang Ungewissheit und Seelenpein.
*
Eine meditative Ruhe lag über dem Wald. Die Stille durchbrachen nur die Tiere, die ungeniert ihre Anwesenheit verrieten. Von irgendwoher drangen die schwerfälligen Schritte eines Bären. Über den Köpfen der Freunde zwitscherten und pfiffen die Vögel. Durch das dichte Blätterdach fielen vereinzelte Sonnenstrahlen und erhellten das Dämmerlicht im Unterholz.
Trotz der friedlichen Stimmung wurde Juliane von einer seltsamen Rastlosigkeit ergriffen. Immer wieder liefen Schauder über ihren Rücken und ihre Kehle war wie zugeschnürt. Auch ihre Freunde schienen zu spüren, dass etwas nicht stimmte.
Gegen Mittag kamen sie durch ein Gebiet, in dem die Bäume immer enger beieinanderstanden. Sie stoppten, als riesige Dornenbüsche den Weg versperrten.
»Es hat keinen Sinn, diese Büsche überwuchern hier offenbar die ganze Gegend«, sagte Torus und seufzte. »Wir müssen den Weg benutzen.«
»Die Straße?«, fragte Juliane. »Können wir nicht tiefer in den Wald vordringen und dieses Gebiet umreiten?«
Torus schüttelte den Kopf. »Unmöglich. Ein Zauber schützt den Wald. Niemand kann sich in die Tiefen des Waldes wagen, ohne sich hoffnungslos zu verirren«, erklärte er. »Zumindest kein Goryydoner. Es gefällt mir ebenso wenig wie euch, aber wir müssen die vorhandenen Pfade nutzen.«
»Verdammt«, fluchte sie ungehalten. »Und warum habt ihr nicht daran gedacht, ehe wir hierhergekommen sind? Es muss doch jemanden geben, der den Zauber umgehen kann, oder?«
Torus warf ihr einen seltsamen Blick zu. »Ein Morvanne oder ein Halbblut könnte es. Die Todesreiter haben dafür gesorgt, dass es in Goryydon weder Morvannen noch Halbblute gibt.«
»Sie haben sie vertrieben?« Juliane schluckte.
»Sie haben alle getötet. Falls einige das überlebten, haben sie Goryydon garantiert verlassen«, erzählte Ranon.
»Was ist aus den morvannischen Dienern geworden, die euch in die Höhlen begleitet haben?«
»Sie sind dem Ruf gefolgt«, erzählte Torus.
»Dem Ruf?«
»Eine mysteriöse Macht zog sie ins Morvannental zurück. Die
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