Der Zauberspiegel
Kalira sprechen sollte, entschied sich aber dagegen. Die Situation war ungünstig. Sie waren alle müde und erschöpft. So konnte man keine vernünftigen Gespräche führen.
*
Kalira lag wach, ohne Schlaf zu finden. Als sie glaubte, die anderen schliefen sicher, richtete sie sich auf.
Ein Blick in die Runde zeigte ihr, dass noch jemand wach war. Aran hantierte bei den Pferden herum. Sie musterte ihn nachdenklich. Er war nur wenig älter als sie, sah gut aus und war unbestreitbar ein Mann. Sie kaute auf ihrer Unterlippe. Wenn sie ihn küsste und nicht dasselbe empfand wie bei Ranon, dann wäre sie sicher, dass sie echte Gefühle für Ranon empfand. Dass eine derartige Annäherung Aran gegenüber unfair sein würde, schob sie beiseite.
Nur ein Kuss, sie wollte nur einen Kuss, um ihre Gefühle sortieren zu können. Einmal entschieden, hielt sie nichts zurück.
Sie stiefelte mit wilder Entschlossenheit auf Aran zu und fragte sich, ob er nicht sofort die Flucht ergriff, wenn er sie derart resolut auf sich zustürmen sah. Doch er verharrte bei seinem Pferd, als spürte er nicht, dass sich ihm jemand näherte. »Aran?«
Er drehte sich langsam zu ihr um, als bemerkte er sie erst jetzt. Sein Gesichtsausdruck verriet milde Neugier.
»Ich habe mich noch gar nicht für deine Hilfe bedankt«, erklärte Kalira und lächelte lasziv.
Kalira schlang ihre Arme um Aran und küsste ihn sanft auf die Lippen. Er versteifte sich, doch dann ergab er sich dem Kuss und erwiderte ihn sogar.
Arans Kuss war sanft, ein wenig desinteressiert vielleicht, doch viel wichtiger war für Kalira, was sie empfand: nämlich nichts. Kein Flattern im Bauch, keine Wärme, die ihren Körper erfüllte und nicht einmal ansatzweise das Bedürfnis, sich enger an ihn zu schmiegen.
*
Kalira umschlang Aran noch immer. Er blickte auf sie hinab. Ihre milchweiße Haut bildete einen ansprechenden Kontrast zu seiner dunklen und ihr rotes Haar erinnerte ihn an poliertes Kupfer. Als sie ihre Augen öffnete, erkannte er eine Fülle an unterdrückten Emotionen. Sie besaß ein wildes Temperament. Sie wäre niemand, der ihn auf Dauer langweilen würde. Doch als er sie küsste, hatte er dasselbe empfunden wie damals bei den Küssen seiner ehemaligen Geliebten Lysande. Sie waren warm und angenehm, aber nicht mehr.
Dass Ranon Kalira so offensichtlich begehrte und für sich beanspruchen wollte, interessierte ihn nicht besonders. Wenn er Kalira wollte, bekäme er sie. Sie reizte ihn nicht und ihr Benehmen verriet ihm nur allzu deutlich, dass sie ihn nur geküsst hatte, um sich selbst etwas zu beweisen. »Entscheide dich, ob du Ranon schlagen oder küssen willst«, flüsterte er.
Kalira blickte ihn erstaunt an. »Ich kann nicht.«
»Dann spiele nicht mit mir«, erwiderte er. »Denn ich spiele nicht«, warnte Aran sie. Ganz behutsam schob er sie von sich. Im selben Moment tauchte Ranon neben ihnen auf und schlug Aran die Faust ins Gesicht. Schmerz schoss durch seinen Kiefer. Seine Knochen knackten. Kalira sprang entsetzt zurück und schrie auf. Aran fing sich und wehrte Ranons Schläge ab. Sein Temperament regte sich. Niemand schlug ihn ungestraft. Er war kein Kind, das man misshandeln konnte. Er hob seine Hand und verpasste Ranon einen Kinnhaken.
Am Rande registrierte er, dass Juliane hinzukam und versuchte, sich zwischen sie zu drängen. Er drehte sich herum, sodass sein Rücken Juliane schützte, und sie nicht versehentlich einen Schwinger von Ranon abbekam.
Warum waren auf einmal alle wach? Eben lagen sie doch noch in tiefstem Schlaf.
»Hört auf«, schrie Juliane. »Das ist doch Kinderkacke!«
Aran ächzte unter einem Treffer von Ranon und schlug zurück. Sein blonder Gegner war außer sich vor Zorn. Er verstand ihn. Ranon verehrte Kalira beinahe abgöttisch, während diese sich distanziert verhielt, seine Gefühle kaum zur Kenntnis zu nehmen schien. Dass Aran nun aufgetaucht und Kaliras Interesse, so kurz und belanglos es auch sein mochte, weckte, war für Ranon ein willkommener Anlass, sich abzureagieren.
*
Juliane verständigte sich wortlos mit Kalira. Entschlossen trat sie hinter Ranon und zerrte an ihm, während Juliane dasselbe bei Aran versuchte. Unerwartet kam Hilfe von Torus, der die beiden Prügelnden auseinanderzerrte.
»Was ist hier los?«, knurrte Torus. Er funkelte Aran und Ranon erbost an.
Kalira stellte sich schützend vor Ranon. »Es war meine Schuld! Sie haben sich wegen mir geprügelt.«
Torus musterte Kalira und
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