Der zehnte Richter
ist die Ruhe im Auge eines Sturms ...« Nicht in der Stimmung, die Aktualität des Zitats anzuerkennen, stellte Ben sich vor den Schreibtisch und wartete darauf, daß der Vorsitzende Richter von seinem Aktenstapel aufsah.
Nachdem er fast eine Minute gewartet hatte, räusperte Ben sich.
Osterman hob ruckartig den Kopf. »Sie haben sich verspätet. Also warten Sie mal noch einen Augenblick.« Samuel Osterman war kleinwüchsig und hager. Er hatte schütteres, zurückgekämmtes schwarzes Haar und trug eine Brille mit dicken Gläsern. Mit seinen neunundfünfzig Jahren war er einer der jüngsten Vorsitzenden in der Geschichte des Gerichts, aber sein schlechter Geschmack bei der Auswahl seiner Brillen und seine Frisur ließen ihn erheblich älter aussehen. Während er wieder zu Ben hochschaute, sagte er: »Anstatt uns dem Wetter draußen auszuliefern, habe ich uns etwas bringen lassen.« Er deutete auf den antiken Tisch an der rechten Wand. »Ich dachte, wir essen hier oben.«
»Wunderbar«, erwiderte Ben.
»Setzen Sie sich, bitte.«
»Danke.« Ben ließ sich auf den Ledersessel vor Ostermans Tisch nieder.
»Columbia, dann Jura an der Yale, und schließlich einige Zeit bei Richter Stanley«, rief sich Osterman die Fakten aus dem Gedächtnis. »Und, wie war die Zeit bei uns bisher?«
»Sehr angenehm«, sagte Ben.
»Nervös wegen irgendwas?« Osterman zeigte auf Bens Fuß, der auf den Teppichboden klopfte.
»Nein.« Ben hörte augenblicklich damit auf. »Bloß eine schlechte Angewohnheit. Wie war Ihr Urlaub?«
»Erfreulich. Und Ihrer?«
»Sehr schön«, antwortete Ben trocken.
»Sagen Sie, sind irgendwelche neuen Eingaben angenommen worden, die Ihnen interessant erscheinen?«
»Tatsächlich ist da eine, die sich gegen die neuen Agrarsubventionen des Präsidenten wendet. Sie sieht vielversprechend aus.«
»Die Farmer sind Reaktionäre nach Jeffersonschem Muster, die noch nie einen einzigen fortschrittlichen Gedanken gefaßt haben«, sagte Osterman. »So kann man es auch sehen.« Ben war von Ostermans Reaktion überrascht. »Aber meinen Sie nicht -«
»Ben, Sie sollten nie etwas meinen. In unserem Beruf geht es nicht um Meinungen. Wenn Sie etwas in Ihrer Zeit hier am Gerichtshof lernen, sollte es das sein, daß das Leben eine Tragödie für die ist, die meinen, und eine Komödie für jene, die denken.«
»Und es ist ein Musical für die, die singen«, schlug Ben vor. Als er sah, daß Ostermans Augenbrauen sich unter den Rand seiner Brille senkten, fügte er rasch hinzu: »Natürlich weiß ich, was Sie sagen wollen.«
Bevor Osterman etwas erwidern konnte, ging die Tür auf, und die Sekretärin trat ein. »Zeit zum Mittagessen.«
Eine Stunde später kam Ben in sein Büro zurück. »Na endlich«, sagte Lisa. »Jetzt sag schon - was hat Rick erzählt? Was wollte er? Wie war dein Mittagessen?«
»Um die leichteste Frage zuerst zu beantworten, würde ich sagen, daß das Mittagessen eine totale Katastrophe war.« Ben sank aufs Sofa. »Du weißt doch, daß alle sagen, die Brillengläser von Osterman erinnerten an eine Colaflasche? Das stimmt gar nicht. Was er da vor dem Gesicht hat, sieht aus wie das Sicherheitsglas eines Bankschalters.«
»Jetzt vergiß ihn mal.« Lisa hatte sich eine riesige Schüssel Salat von einem der Imbißstände geholt. »Was war mit Rick?«
»Ach, ja, unser Arschloch Nummer zwei. Er will American Steel.« »Aber das Urteil wird am Montag verkündet«, sagte Lisa. »Und heute ist schon Freitag.«
»Das hat wohl seine Gründe.« Ben sackte auf dem Sofa in sich zusammen. »Ich bin sicher, Rick will um jeden Preis vermeiden, daß wir uns was gegen ihn ausdenken.«
»Glaubst du, alles ist vorbereitet?« fragte Lisa, den Mund voller Grünzeug.
Ben schwieg einen Augenblick. »Ich habe keine Ahnung.«
»Was soll das heißen, du hast keine Ahnung?«
»Ich habe einfach keine Ahnung.« Ben hob die Stimme. »Ich habe keine Ahnung, wo die Marshals sind; ich habe keine Ahnung, ob sie was richtig machen; ich weiß noch nicht mal, ob sie überhaupt noch auf meiner Seite stehen. Vielleicht arbeiten sie sogar mit Rick zusammen.«
»Das ist doch Unsinn!«
»Wieso Unsinn?« fragte Ben abwehrend. »Man hat mir versprochen, Kontakt mit mir aufzunehmen, aber sie haben sich seit einer Woche nicht gemeldet. Rick verlangt ein nagelneues Urteil, das er zwei Tage früher haben will, als wir es ihm geben dürfen. Er ist im Besitz von Informationen, die dazu führen können, daß meine Freunde ihre Jobs
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