Der Zeichner der Finsternis
war Tante Jeans beste Freundin gewesen und achtete seit ihrem Tod darauf, dass Onkel Hank und ich alle vierzehn Tage eine ordentliche Mahlzeit zu uns nahmen. »Aber das Glück ist flüchtig, Hank.«
»Ich weiß, Miriam.« Onkel Hank ließ sich vom Pfarrer Wein nachschenken. »Ich habe schon mit Justin Brandt gesprochen. Von nun an bleibt er in der Nähe, wenn Christian die Scheune streicht.«
»Nicht nötig«, sagte ich. »Ich kann allein auf mich aufpassen.«
Das wurde natürlich überhört. Wahrscheinlich hätten sie es mir sowieso nicht abgenommen, nach allem, was schon vorgefallen war.
Ich nahm es mir ja selber nicht richtig ab.
+ + +
Die Erwachsenen sprachen die ganze Angelegenheit noch einmal lang und breit durch, aber irgendwann wechselte Pfarrer Schoenberg das Thema: »Was ist das eigentlich für eine Geschichte mit der Leiche in der alten Ziegler-Villa?«
Sarah spitzte sofort die Ohren. »Was für eine Leiche?«
»Es soll sich angeblich um ein Baby handeln.«
»Ein Baby?« Sarah blickte erst ihren Vater an und dann Onkel Hank. »Ein Säugling oder ein Kleinkind?«
»Das kann ich dir auch nicht sagen …« Onkel Hank sah den Pfarrer eindringlich an und schüttelte den Kopf. »Ich darf nicht darüber reden, Steve, die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen.«
Der Pfarrer erwiderte verständnislos: »Die Sache ist doch schon ewig her.«
»Auch das steht noch nicht endgültig fest. Jedenfalls darf ich nicht darüber sprechen.«
»Ich habe gehört, dass jemand aus Madison herkommt«, ging Pfarrer Schoenberg einfach darüber hinweg. (Ich kannte dieses Spielchen schon: Schoenberg ist neugierig. Mein Onkel sagt, er darf über irgendwas nicht sprechen. Und der Pfarrer spekuliert munter drauflos, bis er irgendwann doch erfährt, was er wissen will.) Schoenberg schenkte Onkel Hank noch einmal Wein nach. »Zur Spurensicherung, heißt es.«
Onkel Hank zuckte die Achseln. »Nur die Rechtsmedizinerin und ihr Team. Bis sie kommt, dauert es aber noch eine Weile, also immer mit der Ruhe. Der hiesige Leichenbeschauer meint, das tote Kind liegt schon sehr lange dort.«
Mrs Schoenberg zog die Augenbrauen hoch. »Immer mit der Ruhe? Also wenn das mein Haus wäre, würde ich mich darum kümmern, dass die Leiche so schnell wie möglich wegkommt. Ich würde ins Hotel ziehen! Ist die Besitzerin denn nicht fix und fertig mit den Nerven?«
»Nein. Sie ist … eine ungewöhnliche Frau.«
Mrs Schoenberg horchte auf. »Ich kann mich nicht entsinnen,dass du jemals eine Frau ›ungewöhnlich‹ genannt hättest, Hank.«
Onkel Hank lachte verlegen. »Ich wollte damit nur ausdrücken, dass sie … den Fund der Leiche eher spannend findet. Sie ist ganz wild darauf, etwas über die Geschichte ihres Hauses zu erfahren.«
»Über die Spukvilla? Wie lange hat das alte Gemäuer leer gestanden? Zwanzig Jahre?«
»Mindestens. Soviel ich weiß, hat der erste Besitzer, Mort Ziegler, sein letztes Hemd verloren, als um 1890 mit Sandstein keine Geschäfte mehr zu machen waren.«
»Gibt es denn keine alten Unterlagen?«, fragte Pfarrer Schoenberg.
»Wenn doch, sind sie nicht aufzufinden. Schon komisch, dass die Villa die ganze Zeit leer gestanden hat. Es ist ein wunderschönes Haus in erstklassiger Lage. Ich habe erst mitbekommen, dass es zu verkaufen war, als die neue Besitzerin eingezogen ist.«
»Muss ein Vermögen kosten, den alten Kasten zu heizen. Bestimmt muss auch die ganze Elektrik erneuert werden. Wurde die Leiche dabei gefunden?«
»Ja, bei der Renovierung. Die Arbeiter mussten im zweiten Stock die alte Dämmung rausreißen und wollten das Mauerwerk ausbessern. Die Leiche wurde entdeckt, als sie den alten Kamin ausgebaut haben. Die Kollegen aus Madison wollen das Haus jetzt noch mal vom Dach bis zum Keller mit Bodenradar absuchen, außerdem das ganze Grundstück. Womöglich erleben sie noch mehr Überraschungen.«
»Hat man denn schon eine Vermutung, wessen Kind das war?«
Onkel Hank schüttelte den Kopf. »Ich tippe auf ein längst verstorbenes Dienstmädchen. Um die Jahrhundertwende haben sich die wohlhabenden Leute nicht groß darum gekümmert, wie es ihren Angestellten ging. Es wäre auch niemandem aufgefallen, wenn sich ein Dienstmädchen eine Weile nicht in der Stadt blicken ließ. Trotzdem sollte man denken, dass es Gerüchte gegeben hätte.«
Sarah mischte sich ein: »Ich hab letztes Jahr in Geschichte ein Referat über Aberglauben gehalten, weißt du noch, Dad? Ich durfte für die Recherche deinen
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