Der Zeitenherrscher
durch die Haare, und der Junge wusste sofort, was das bedeutete.
„Der Zauber lässt nach!“, schrie er seinen Freunden aufgeregt zu. „Schnell!“
Tatsächlich schlug die gesamte Atmosphäre um. Es war beinahe, als könnte man fühlen, wie alles in der Ebene erwachte.
Auch Moon begriff, was das zu bedeuten hatte.
„Nein!“, schrie er entsetzt und stürzte den Hang hinunter. „Wir müssen noch die anderen retten! Wir müssen …“
Simon hechtete ihm hinterher und riss ihn am Arm zurück. „Bleib hier, Moon. Wir können nichts mehr tun. In wenigen Augenblicken …“
Moon erhob die freie Faust. Mit finsterem, wütendem Blick starrte er Simon an. Dann ließ er die Faust langsam sinken. „Du meinst …“
Simon nickte voller Mitgefühl. „Wenn du jetzt zu dem Lager läufst, dann rennst du in den sicheren Tod. Es gibt kein Entrinnen.“ Er deutete mit dem Kopf zur Anhöhe. „Wir konnten einige deiner Leute retten. Für die anderen …“
Moon sah Simon noch für einen Moment in die Augen, dann riss
er die Faust wieder hoch. Dieses Mal stand er gegen die Soldaten
gewandt, die rund um den Colonel standen. „Nein!“, schrie er noch
einmal, dann spürte er Simons Hand auf seiner Schulter, und ohne
weiteren Widerstand ließ er sich von seinem Freund auf den Hügel
führen.
Er zog den Vogel so nahe an
sich heran, dass dessen Schnabel beinahe seine Nase berührte.
Die
Krähe zuckte, wehrte sich kurz gegen den engen Griff, doch sie hatte
keine Chance. Also gab sie jeden Widerstand auf und ließ den Zauber
zu.
Der Magier drang mit seinen Blicken tief in die Augen der Krähe
ein. So tief, dass der Vogel das Bewusstsein verlor. Jetzt konnte der
Zauber wirken. Über den matten Geist der Krähe konnte er Kontakt
aufnehmen zu anderen Vögeln. Sich ihrer bemächtigen. Sehen, was sie
sahen. Hören, was sie hörten. Es brauchte einige Zeit, bis er gefunden
hatte, wonach er suchte. Eine Krähe beobachtete das Geschehen auf
einer Anhöhe. Menschen trugen Menschen. Im Schnee entmutigte
Gesichter. Tränen. Angst. Verzweiflung.
Und mittendrin: Simon. Mit den
Zeitenkriegern.
Nun wusste er, was die Ursache des Zeitbebens
war.
Bloß wie dieses Beben zustande gekommen war – wer einen solchen
Zauber ausgesprochen haben konnte – das wusste er nicht.
Noch
nicht.
Doch er würde es erfahren.
Bald schon.
Simon spürte, wie sich auf seiner Schulter langsam ein feuchter Fleck bildete. Moons Tränen drangen selbst durch Hemd und Shirt.
Der Indianer hatte seinen Kopf gegen Simons Schulter gelehnt. Er weinte still um die vielen Menschen, die im Massaker ihr Leben gelassen hatten. Er weinte um seine Familie, die er in ihrem Versteck auf dem Hügel zurücklassen sollte. Und er weinte um sich selbst. Jetzt, wo er Bescheid wusste. Wo er alles gehört hatte, was es zu hören gab: von den unzähligen Schüssen der Soldaten auf die Lakota bis hin zu den Erklärungen Salomons, der Moon alles berichtet hatte, was mit der Welt des Schattengreifers und mit ihrem Leben auf dem Seelensammler zusammenhing.
Zwei Stunden war es jetzt her, dass die Schüsse verstummt waren und Moon sich von seiner Familie verabschiedet hatte. Erst waren sie schweigend nebeneinander durch den Schnee gegangen. Dann hatten sie lange im eisigen Wind auf dem Schnee gesessen und miteinander gesprochen. Salomon hatte die richtigen Erklärungen gefunden für etwas, das sich eigentlich nicht erklären ließ. Moon hatte geduldig zugehört. Und mit jedem einzelnen Wort war ihm bewusst geworden, dass hier kein Platz mehr für ihn war. Nach allem, was er jetzt wusste und erlebt hatte, konnte er hier nicht bleiben.
„Ich bin euch dankbar für eure Hilfe“, sagte er schließlich. „Ich bin euch dankbar für eure Treue. Und natürlich werde ich mit euch zu diesem Schiff gehen.“
„Wir sind glücklich, dass du das sagst“, erwiderte Nin-Si, und Simon ergänzte: „Wir können nicht erahnen, wie es dir hier ergehen würde. Schau: Du hast noch immer keinen Schatten. Du stehst noch immer unter dem Zauber des Schattengreifers. Esist uns nicht gelungen, dich zu befreien. Und wir wissen nicht, wie dieser Zauber hier in deiner Welt wirken würde. Du musst mit uns kommen. Auf das Schiff.“
Moons Blick schweifte wieder in Richtung Wounded Knee , während er Simon zuhörte. Und wieder einmal veränderte sich sein Gesichtsausdruck. Gerade so, als könne er noch immer die Geräusche hören von dem, was dort vorgegangen war. Auch jetzt noch, Stunden nach dem Vorfall, und auch hier
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