Der Zorn Des Skorpions
wütete, wirkte seine Hagerkeit grenzwertig, sein Gesicht zerfurcht, sein Haar mehr und mehr von Silberfäden durchzogen und seine Miene unnachgiebig und finster.
Und trotzdem, dachte sie, war er der interessanteste Mann, der ihr seit langer, langer Zeit begegnet war.
Grayson war wie Alvarez nicht restlos davon überzeugt, dass die Frau, die in Spokane im Gefängnis einsaß, tatsächlich für die Serienmorde in Grizzly Falls verantwortlich war. Erst wenn er und die restlichen Mitarbeiter im Büro des Sheriffs sicher sein konnten, dass sich der Mörder nicht mehr auf freiem Fuß befand und mitten im schlimmsten Schneesturm, den Pinewood County seit einem halben Jahrhundert gesehen hatte, Angst und Schrecken verbreitete, würden sie wieder zur Ruhe kommen. Zumal jetzt eine der besten Detectives in diesem Fall vermisst wurde. »Das ist nicht gut«, sagte er noch einmal gedehnt. »Versuch’s bitte noch einmal.«
»Mach ich, aber, glaub mir, Pescoli wird sich nicht melden. Ich hab dir doch gesagt, als sie mich das letzte Mal anrief, hat sie mich gebeten, für sie einzuspringen, weil sie Privatangelegenheiten zu regeln hatte.«
»Familienangelegenheiten, hast du gesagt.«
»Mit ihrem Ex. Wegen der Kinder. Sie ist nicht näher darauf eingegangen.«
Sein Blick wurde düster. »Das war gestern«, sagte er und sprach damit ihre eigenen Gedanken laut aus. »Finde sie. Schick jemanden los, der in ihrer Wohnung nachschaut. Irgendein Deputy dürfte sich in der Gegend aufhalten. Vielleicht Rule. Oder Watershed. Ruf sie an.« Deputy Kayan Rule erinnerte eher an einen Power Forward in der Basketball-Nationalmannschaft als an einen Polizisten. Sie hatte nichts gegen ihn. Watershed dagegen war eine veritable Nervensäge. Ein guter Deputy, aber ansonsten einer von der Sorte, der grobe Witze mochte und sich selbst als eine Art Frauenheld betrachtete.
»Ich kümmere mich selbst darum.« Sie fuhr bereits ihren Computer herunter. »Ich fahre zu ihrer Wohnung. Sie liegt ohnehin auf meinem Weg«, sagte sie, denn sie wollte, nein,
musste
etwas tun, irgendetwas, statt noch eine Minute länger in diesem Büro zu sitzen, immer wieder die Fotos der Opfer des Unglücksstern-Mörders zu betrachten oder seine Botschaften zu entschlüsseln versuchen und eine Verbindung zwischen ihnen und der verhafteten Verdächtigen herzustellen.
»Meinst du?«
»Klar.« Sie rollte auf ihrem Stuhl vom Schreibtisch weg und griff nach Dienstwaffe, Schulterhalfter und Jacke.
»Gut.« Grayson sah auf die Uhr. »Und schick jemanden raus, der mit Lucky Pescoli spricht.« Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Zu dieser Jahreszeit drehen die Leute einfach durch. Fest der Liebe und Frieden auf Erden, heißt es überall, aber immer zur Weihnachtszeit mehren sich die Selbstmorde und Mordfälle. Und häusliche Gewalt.« Er sah Alvarez fest in die Augen. »Detective Pescoli ist nicht gerade für ihre Engelsgeduld bekannt.«
Dem konnte Alvarez nicht widersprechen.
Grayson stülpte sich den Hut auf den Kopf. »Lass mich wissen, was du in Erfahrung bringst. Hat sich schon jemand in der Zentrale erkundigt? Ob ein Alarm eingegangen ist?«
»Dort hat man auch nichts von ihr gehört. Keine Polizistin in Bedrängnis hat sich gemeldet.«
Grayson rieb sich den Nacken und schüttelte den Kopf. »Das ist alles so untypisch für sie. Sieh zu, dass du was Näheres erfährst.« Er sah aus dem Fenster auf die verschneite Landschaft. »Sobald das Wetter besser wird, fliege ich heute mit Chandler und Halden nach Spokane«, sagte er, Bezug nehmend auf die beiden FBI -Agenten, die ebenfalls mit dem Fall befasst waren.
»Die Frau, die in Spokane verhaftet wurde, ist nicht unser Täter«, konstatierte Alvarez tonlos.
Ein Muskel zuckte in Graysons Wange. »Ich hoffe wirklich, dass du dich irrst.«
Sie betrachtete die auf ihrem Schreibtisch verstreut herumliegenden Notizen. »Diese Person, die verhaftet wurde, passt nicht ins Muster. Ich wette, sie hat ein Alibi für die Morde.«
»Das FBI prüft das.«
»Ich auch.« Was den Unglücksstern-Mörder anging, vertraute Alvarez niemandem außer sich selbst. Nicht mal dem FBI .
»Und finde Pescoli.«
»Mach ich«, versprach sie, schob den Arm durch ihr Schulterhalfter und schloss die Schnalle. Grayson schlug auf die Trennwand ihres Arbeitsplatzes und ging in Richtung Tür, doch Joelle Fisher, die Rezeptionistin und Wichtigtuerin des Dezernats, trat ihm in den Weg. Sie ging auf die sechzig zu, sah aber gut zehn Jahre jünger aus und
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