Der Zorn Des Skorpions
fest, dass das Haus leer war. Außer der sanft glimmenden Lichterkette des Weihnachtsbaums brannte kein Licht. Der Fernseher war ausgeschaltet. Sie sah Geschirr auf dem Küchentresen und einen offenen Pizzakarton auf einem Tischchen, aber kein Lebenszeichen. Auch keinen Hinweis darauf, dass etwas faul war.
Sie umrundete das an einen Hügel gebaute Häuschen, ging zurück zur Garage, entdeckte dort ein kleines Fenster und erhob sich auf die Zehenspitzen, um hindurchzuspähen. Leer.
Die gesamte Familie war fort.
Ein ungutes Gefühl überkam sie, als sie nach einem der üblichen Verstecke für einen Schlüssel suchte. Weder unter der Matte noch in den Blumenkübeln neben der Haustür wurde sie fündig. Sie sah unter der Dachrinne und in den Fensternischen nach.
Nada.
Sie ist Polizistin. In Türnähe würde sie den Schlüssel nicht verstecken.
Alvarez ging zurück zur Garage und suchte dort, fand jedoch nichts. Sie schritt noch einmal ums Haus herum und hielt auf der anderen Seite inne, wo sie hinter dem Kamin einen Lüftungsschacht entdeckte. Eher unwahrscheinlich.
»Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.«
Mit den Zähnen zog sie sich einen Handschuh aus, griff in den Schacht hinein und ertastete einen kleinen Metallgegenstand. »Heureka«, murmelte sie. Sekunden später stand sie vor der Hintertür und trat in die Küche, in der noch der Geruch von Peperoni und Käse hing.
»Pescoli?«, rief sie und schritt langsam durchs ganze Haus. Im Wohnzimmer mit der Essnische und in der Küche war niemand. Der Weihnachtsbaum stand gefährlich schief in einer Ecke, unter den geschmückten Zweigen lagen ein paar Geschenkpäckchen. Illustrierte und die Zeitung vom Vortag mit der großen Schlagzeile über den Unglücksstern-Mörder lagen verstreut auf einem Tisch, der seine besten Zeiten schon lange hinter sich hatte, und einem abgenutzten Sofa herum. Das Bad, vollgestellt mit Haar- und Hautpflegemitteln, war längere Zeit nicht benutzt worden, kein beschlagener Spiegel, keine Wassertropfen in Dusche und Badewanne wiesen darauf hin, dass in den letzten Tagen jemand dort gewesen war. Im Zimmer von Regans Tochter herrschte das Chaos. CDs, Nagellackfläschchen, DVDs und Kleidungsstücke lagen auf dem Doppelbett und dem Boden verstreut. Das Regal quoll über von Plüschtieren und Puppen, denen Bianca, wie Alvarez annahm, wohl gerade erst entwachsen war.
Regans Schlafzimmer, nur geringfügig größer und ordentlicher, war leer.
Alvarez stieg die knarrende Treppe hinunter und öffnete die Tür zu Jeremys Zimmer, einem zehn mal zehn Meter großen Raum mit Fernseher, einer Spielkonsole und einem Computer am Fußende des Bettes. Bis auf den sonderbaren, ständig wechselnden Schein einer Lavalampe brannte kein Licht. Unter dem Bett lugte schmutziges Geschirr hervor, an den Wänden hingen Poster von Footballstars und Rockbands. Über allem hing der süße, rauchige Geruch von Marihuana. Jeremy war offenbar ein Kiffer.
Wunderbar,
dachte Alvarez. Das fehlte Pescoli gerade noch: eine Tochter im Teeniealter, die zu schnell erwachsen wurde, und ein Sohn, der Drogen nahm und sich mit der verwöhnten Tochter des zweiten Sheriffs einließ. Sie ließ den Blick durch Jeremys Zimmer schweifen und hätte dem Bengel liebend gern einen Tritt in den Hintern versetzt. Aber er war ja nicht da.
Auf dem Nachttisch stand ein Foto von Joe Strand, Jeremys leiblichem Vater, wenngleich Pescoli den Jungen im Grunde allein großgezogen hatte und die eigentliche Vaterfigur in seinem Leben war.
Vielleicht würde ich unter solchen Umständen auch kiffen,
dachte Alvarez. Hinzu kam noch Pescolis Tochter Bianca, deren Ichbezogenheit schon beängstigende Ausmaße annahm.
Als alleinerziehende Mutter hatte Pescoli wirklich alle Hände voll zu tun.
Nichts in Jeremys Zimmer gab Alvarez einen Hinweis auf Pescolis Verbleib. Sie ging wieder nach oben in die Küche. Als sie vor dem Herd stand, auf dem in einer Bratpfanne noch Reste von Kartoffelpuffern zu erkennen waren, kam sie sich vor wie ein Eindringling, eine Voyeurin, die das Leben ihrer Partnerin unter die Lupe nahm. »Wo steckst du nur?«, fragte sie und trat an einen Schreibtisch, auf dem ein paar Umschläge lagen und einige Rechnungen mit der Aufschrift »Überfällig« in roten Großbuchstaben.
Nichts deutete auf einen Kampf hin. Kein Hinweis auf Gewalt, lediglich Kratzer unten an den Türen, die nach draußen führten, zweifellos von dem kleinen Köter, der auch verschwunden war. Doch in einem Napf auf dem
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