Der Zorn Des Skorpions
schlüpfe in Jeans und Pullover. Der lässige Mann aus den Bergen.
Sie schluchzt leise im anderen Zimmer, als ich barfuß in die Küche gehe, wo bereits heißes Wasser auf dem Ofen dampft. Ausgezeichnet. Ich gieße einen Becher voll, hänge einen Teebeutel hinein und sehe zu, wie sich das Wasser tabakbraun färbt. Eine vage Erinnerung blitzt auf. Es ist das Bild einer Frau aus lang vergangener Zeit. Sorgfältig, mit stiller Berechnung tunkte sie einen Teebeutel in eine angeschlagene Tasse. Sie war hübsch, mit weichen Brüsten und stets pfirsichfarben geschminkten Lippen, mit ständig herabgezogenen Mundwinkeln. Die Aura der Unzufriedenheit hüllte sie ein wie eine Wolke. Sie roch nach Zigaretten und Parfüm und gab vor, meine Mutter zu sein.
Doch sie war, wie so viele andere, eine Schwindlerin.
Meine Hände zittern. Beben. Ich höre ihre höhnischen Bemerkungen.
»Idiot.«
»Schwachkopf.«
»Versager auf der ganzen Linie.«
Der Tee schwappt beinahe über.
Langsam atme ich aus. Gewohnheitsmäßig schüttle ich die hässliche Erinnerung ab und trage, nun wieder ganz ruhig, den Becher durch den Wohnbereich, wo ich gerade mein Training absolviert habe, und durch den Flur zur Tür zum Zimmer meiner Gefangenen. Sie ist jetzt etwas ruhiger, als wollte sie vor mir verbergen, dass sie geweint hat. Als wollte sie sich zusammenreißen. Was ihr nie gelingen wird.
Ich klopfe leise an die alte Tür und öffne sie langsam. Ein Lichtstreifen fällt ins dunkle Innere. Sie liegt auf dem Bett. Verängstigt. Mit großen Augen. Tränen laufen unübersehbar über ihre Wangen. Bin ich Freund oder Feind? Ihr Ritter in strahlender Rüstung? Ein guter Samariter? Oder die Verkörperung des Bösen?
Bald wird sie es wissen.
Luke Pescoli persönlich öffnete die Tür.
Eins achtzig groß und kräftig, blockierte er den Eingang zu seinem einstöckigen Haus. Er trug ein langärmeliges T-Shirt und eine Sweathose und sah mit seinem zerzausten blonden Haar aus, als hätte er stundenlang vor dem Fernseher gesessen, der im Hintergrund flimmerte. Die Regionalnachrichten liefen; Hauptthema war die Verhaftung einer Frau, in der man die Serienmörderin vermutete, und Regans munterer kleiner Terrier stob durchs Haus. Seine Krallen klickten auf dem Holzboden, als er knurrend und bellend zur Tür raste.
»Cisco, still!«, befahl Pescoli und vertrat dem rauflustigen kleinen Terrier den Weg, als dieser nach draußen entwischen wollte.
Alvarez hatte längst beschlossen, dieses Verhör so professionell wie möglich durchzuführen. Sie kannte Lucky von früher, aber nur flüchtig. »Guten Tag, Mr. Pescoli. Ich bin Detective Selena Alvarez vom …«
»Jaja, das weiß ich doch«, fiel er ihr ins Wort. »Was wollen Sie?«, fragte er und versuchte, den außer Rand und Band geratenen Hund zu bändigen.
»Ich suche Regan.«
»Regan?«
Sie erhaschte einen Blick auf einen beflockten Weihnachtsbaum hinter ihm; pinkfarben und kitschig stand er Wache beim Flachbildfernseher. Zimtduft strömte aus dem Raum. »Ihre Ex-Frau.«
»Ja, ich weiß. Warum so hochoffiziell? Regan ist nicht hier. Warum sollte sie auch?«
»Sie ist verschwunden, und sie hat eine Nachricht hinterlassen, dass sie etwas mit Ihnen zu regeln hat und …«
»Verschwunden?«, unterbrach er sie grob. Der Blick seiner braunen Augen wurde wachsam. »Was soll das heißen, verschwunden?«
»Sie ist heute nicht zur Arbeit gekommen, und sie ist auch nicht zu Hause.«
»Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?«, fragte er fassungslos.
»Lucky!«, rief eine schrille Frauenstimme in seinem Rücken.
Michelle,
seine Frau, kompakt und kurvenreich, stürmte aus dem Wohnzimmer zur Haustür.
»Pass auf, was du sagst! Bianca ist hier.«
»Ach, hör doch auf!«, sagte Regans Tochter, drängte sich an ihrem Vater vorbei und sah Alvarez misstrauisch an. »Was sagen Sie da? Mom kann doch nicht verschwunden sein. Was soll das heißen?« Sie hob den Blick zu ihrem Vater. »Das ist ein Witz, ja?« Aber sie war beunruhigt. Ihre Augen, denen ihres Vaters so ähnlich, spiegelten seine Sorge.
Er tat ihre Frage mit einer Handbewegung ab. Zu Alvarez sagte er: »Erzählen Sie von Anfang an.«
»Das wollte ich Ihnen gerade vorschlagen.«
»Also, um Gottes willen, kommen Sie rein«, sagte Michelle, sah ihren Mann böse an und schmollte wie ein kleines Mädchen. »Da draußen ist es eisig kalt, und unsere Gasrechnung ist nun wirklich schon hoch genug.«
Widerwillig gab Lucky die Tür frei, und Alvarez klopfte
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