Der Zorn Gottes
tanzende, flackernde
Schattengestalten zum Leben erwachen.
»Ich will zu deinem
Herrn«, wiederholte Cranston sanft.
»Sir, er ist nicht
hier. Er ist heute nachmittag fortgegangen und nicht zurückgekommen.«
Athelstan schloß die
Augen. »Oh Gott«, flüsterte er.
»Was ist denn?«
Ein zerzauster Junge mit
schlaftrunkenem Blick und dem Antlitz eines Engels kam plötzlich aus
einer Kammer in den Flur; in der Hand hielt er eine Laterne, die fast so
groß war wie sein Kopf.
»Und wer bist du, Sir?«
fragte ihn Cranston.
»Perrot«, sagte
der Junge. »Master Sturmeys Lehrjunge.«
Er kam näher. Athelstan
schätzte ihn auf dreizehn oder vierzehn Sommer, und wieder fühlte
er sich an einen Engel erinnert, den Huddle in St. Erconwald an die Wand
gemalt hatte.
»Der Meister ist fort«,
sagte der Junge ungerührt. »Er ist kurz nach Mittag weg und
nicht zurückgekommen.«
»Und die Herrin des
Hauses?«
»Die ist auch fort und
kommt nicht wieder.«
»Wieso nicht?«
»Weil sie vor fünf
Jahren gestorben ist.«
Athelstan grinste und zog
einen Penny aus seiner Börse. Er ließ ihn durch die Luft
wirbeln, und der Junge fing ihn geschickt auf.
»Und Sturmeys Sohn?«
»Der ist auch nicht da«,
sagten Magd und Lehrling im Chor. »Er ist in York. In
wichtigen Geschäften des Königs.«
Cranston nickte, als er die
beiden feierlichen Mienen sah.
»Hört mal«,
sagte er, »wir können das nicht hier erörtern. Junge, schläfst
du in der Werkstatt?«
»Aye.«
»Dann laß uns da
hineingehen.«
Der Junge blinzelte und
schaute die Magd an; diese nickte.
»Dann kommt«,
sagte Perrot. »Aber Ihr dürft nichts anfassen, sonst verprügelt
mich der Meister.«
Er führte sie in einen
Raum, der am Gang lag, zündete ein paar Kerzen an und zog zwei
Schemel für seine unerwarteten Besucher heran. Athelstan nahm Platz
und schaute sich um. Noch nie hatte er so viele Schlüssel gesehen.
Sie hingen bündelweise an der Wand, dazu Metallstücke, Gußformen
und Zangen. An der Wand sah er eine kleine Schmiedeesse. Es roch nach
verbranntem Holz und Holzkohle, und alles war von feinem Staub bedeckt. Er
schaute unter einen Tisch und sah das Bett des Lehrlings: eine
Strohmatratze, ein Kissen, eine Wolldecke und einen ziemlich mitgenommenen
hölzernen Reitersmann, vielleicht das Lieblingsspielzeug des Jungen.
»Möchtet Ihr Wein?«
fragte die Magd und bemühte sich, älter zu erscheinen, als sie
war.
»Nein, nein.«
Athelstan lächelte. »Sir John rührt niemals Wein an -
nicht wahr, Mylord Coroner?«
»Nein«,
antwortete Cranston barsch und schaute Athelstan mit schmalen Augen an.
Dann richtete er sich auf. »Ich gebe ein gutes Beispiel.«
Der Junge musterte den
riesenhaften Coroner unter gesenkten Lidern und schien nur halb überzeugt.
»Wo ist dein Herr
hingegangen?« fragte Cranston.
»Ich weiß nicht.
Er ging einfach hinaus.«
»Und wie war er?«
»Sehr aufgeregt«,
berichtete der Lehrjunge.
»Weshalb?«
»Oh, wegen der Truhe für
die hohen Lords und wegen der Schlüssel.«
»Sag mal«, sagte
Cranston, beugte sich vor und versuchte, den Weinschlauch unter seinem
Mantel zu verbergen. »Hast du deinem Meister geholfen, die Truhe zu
machen, die Schlösser und die Schlüssel?«
»Oh ja.«
»Und wie viele Schlüssel
hat er gemacht?«
»Sechs.«
»Nicht mehr - für
den Fall, daß mal einer verlorengeht?«
»Oh nein. Mein Meister
hat gesagt, das sei verboten.«
»War denn Besuch in der
Werkstatt?« fragte Athelstan. »Jemand Geheimnisvolles in
Mantel und Kapuze vielleicht?«
»Nein.« Der Junge
lachte. »Weshalb?«
Sein Blick war flackernd, und
er schlug die Augen nieder. Du verbirgst uns etwas, dachte Athelstan, aber
es hat nichts mit dieser Sache zu tun.
»Und wer von den hohen
Herren war hier?«
»Na, gestern kamen sie
alle«, sagte Perrot. »Mit ihren Mänteln, Stiefeln und
Biberpelzmützen war das ganze Haus voll. Sie mußten Truhe und
Schlüssel zum Rathaus bringen. Draußen waren Soldaten mit einem
Karren.«
»Ja«, fuhr
Athelstan fort, »aber bevor dein Meister die Schlüssel und die
Schlösser fertig hatte, hat ihn da einer der hohen Herren allein
besucht?«
»Ich glaube nicht«,
antwortete der Junge. »Ich wohne und schlafe hier. Der Meister
bringt seine Besucher immer her, wenn er nicht gerade im Garten arbeitet.
Da geht er gern allein hin. Er sagt, er
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