Der zugeteilte Rentner (German Edition)
Wiederhören!“
Clara wählte die Handynummer, es klingelte zweimal, dann folgte eine dunkle Stimme.
„Januszewski!!“
„Hallo, Papa!“
Für eine Weile wurde es still am Ende der Leitung. Sie hörte fast, wie seine Gehirnzellen anfingen, heiß zu laufen, Panik in ihm ausbrach und seine Augen den Raum nach einem Hinterausgang absuchten.
„Wie geht es dir?“
„So lala, ich wollte mir dir sprechen!“
Wieder eine lange Pause.
„Wegen was?“
„Ich hab’ ein paar Probleme und wollte dich um Rat fragen.“
„Brauchst du Geld?“
„Nein, geht schon. Einfach nur ein paar Tipps und“, sie überlegte, „ein paar aufmunternde Worte.“
„Steckst du in Schwierigkeiten?“
„Ja, nein! Nicht wirklich! Kann ich dich sehen?“
Es folgte Schweigen, entweder wurde die Leitung unterbrochen oder er hatte aufgelegt.
„Hallo?“
„Ich kann jetzt nicht reden. Wie dringend ist es denn?“
„Dringend!“
Sein nächster Satz wurde mit einem langen und genervten Stöhnen begleitet: „Heute Mittag um zwei im Leonardo.“
Das Café Leonardo kannte jeder in der Stadt. Nicht, weil es besonders beliebt war, hier gab es auch nichts wirklich Leckeres zu essen, es besaß nicht einmal eine angenehme Atmosphäre. In jeder Ecke schwebte ein Breitbildfernseher und bestrahlte die Gäste mit Sport, Musik-Clips und Werbung. Die Plastiktische und Plastikstühle passten zum restlichen künstlichen Inventar. Letztendlich gab es nur einen Grund für die Popularität des Leonardos: Es gehörte zu den Cafés, die alle kannten, weil sie bekannt waren. Genauso zog es auch die entsprechenden Menschen an: Männer und Frauen, die „in“ sein wollten und sich deswegen an Orten aufhielten, die diesen Trend unterstrichen.
Clara wartete lange. Um halb drei bog ihr Vater endlich um die Ecke. Vor dem Café marschierte er auf und ab, als hätte er etwas vergessen, dann wandte er sich um, trippelte zurück, kam wieder, wühlte in seinen Taschen, zog einen Schlüssel heraus und betrat schließlich das Café. Sofort zog er die Blicke einiger heiratswilliger Frauen Ende dreißig auf sich. Obwohl er die fünfzig bereits überschritten hatte, sah er verdammt gut aus: eine Mischung aus George Clooney und Pierce Brosnan, inklusive weißen Schläfen. Frauen fanden die Mischung sexy und er wusste das. Der braune Teint stammte aus der Tube, die Altersflecken verbargen sich hinter Schminke, selbst die grauen Haare, die normalerweise aus Nase und Ohre schauten, gab es nur noch in der Erinnerung. Lediglich seine Muskeln waren real, täglich eine halbe Stunde Training, bevor er ins Büro fuhr. Kein Wunder, dass er sich so fit hielt. Da er dreimal geheiratet hatte, musste er einige Kinder finanziell versorgen, alle zwischen 3 und 23 Jahren, man nannte ihn sogar schon Großvater. Wie er das finanzierte, wusste keiner so recht. Sein Gehalt reichte kaum für ihn selbst – auch wenn er einen Agentur-Mercedes fuhr.
„Hi!“, sagte er kurz, küsste Clara auf die Wange und setzte sich zu ihr.
„Was trinkst du?“
„Danke, ich hab nicht viel Zeit!“
„Musst du gleich wieder weg?“
„Ich hab nur fünf Minuten, tut mir leid! Ich muss noch beim Kunden vorbei und danach gleich Philipp vom Sport abholen und zum Therapeuten bringen. Worum geht es?“
Er beugte sich nach vorne, lächelte sie an und wollte ihr über die Hand streicheln, doch Clara zog zurück. Lehnte sich nach hinten. Ihr Vater sollte nicht merken, dass sie sich vor seiner Berührung fürchtete. Bazillen. Bakterien. Keime. Pilze. Ihr Vater wirkte so krank. Er lächelte noch einmal. Diesmal auffordernder. Aber wo sollte sie anfangen, bei ihrem zugeteilten Rentner, bei Finn oder bei der verpatzten Zwischenprüfung?
„Ich habe ein paar Probleme mit der Uni. Und da ist auch noch so eine Wohnungsgeschichte mit einem Untermieter.“
„Das ist alles? Oder gibt es da noch schlimmere Sachen … oh, Gottt – du bist schwanger. Sag, dass du nicht schwanger bist!“
„Ich bin nicht schwanger.“
„Gott sei dank! Alles andere ist nur halb so schlimm. Oder war da noch was? Bist du krank? Musst du operiert werden?“
„Nein! Ich denke, das andere ist nicht so wichtig. Ich komme schon zurecht.“
Ihr Vater verzog das Gesicht, fasste sich kurz an den Bauch, dann lächelte er sie wieder an.
„Möchtest du etwas essen?“, sagte sie und deutete auf seinen Magen.
„Nein, nein! Ich esse mittags nie was!“
Jetzt lächelte er noch mehr, er grinste richtig.
„Und du? Bist du sicher, dass du zurechtkommst?“
„Hey, du
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