Der Zusammenbruch
anziehen.«
Seit sie verstummt waren, schien der Lärm der Schüssetatsächlich lauter zu werden. Sie sprang aus dem Bett und ließ sich helfen, denn sie wollte nicht gern ihre Kammerfrau rufen; dann zog sie ihre Schuhe an und warf rasch ein Kleid über, um fertig zu sein, wenn sie jemand empfangen und hinuntergehen mußte. Als sie sich rasch das Haar machte, klopfte es, und sie lief hin, um zu öffnen, da sie die Stimme der alten Frau Delaherche erkannte.
»Aber selbstverständlich kannst du hereinkommen, liebe Mutter!«
Mit ihrer gewöhnlichen Unbesonnenheit führte sie sie ins Zimmer, ohne daran zu denken, daß die Diensthandschuhe da noch auf dem Leuchtertischchen lägen. Henriette stürzte sich vergeblich auf sie, um sie hinter einen Lehnstuhl zu werfen. Frau Delaherche mußte sie gesehen haben, denn sie blieb ein paar Sekunden wie erstickt stehen, als ob sie Atem schöpfen müsse. Unwillkürlich warf sie ihre Blicke durch den Raum und ließ sie auf dem rotausgeschlagenen Bett haften, das in vollster Unordnung weit offengeblieben war.
»Also Frau Weiß kam herauf, um dich zu wecken... Du konntest schlafen, liebe Tochter...«
Augenscheinlich war sie nicht gekommen, um ihr grade das zu sagen! Ach! diese Ehe, die ihr Sohn gegen ihren Willen an der Wende der Fünfzig eingegangen war, nach zwanzig Jahren eines eisigen Zusammenlebens mit einer unfreundlichen, mageren Frau, ihr Sohn, der bis dahin so verständig gewesen war und sich nun von seiner Sehnsucht nach Jugend zu dieser reizenden, so leichtsinnigen und fröhlichen Witwe hinreißen ließ! Auf die Gegenwart wollte sie schon achthaben, aber nun kam die Vergangenheit zurück! Und durfte sie denn sprechen? Sie lebte in diesem Hause nur noch wie ein stiller Vorwurf und hielt sich dauernd in tiefer,starrer Frömmigkeit in ihrer Kammer eingeschlossen. Diesmal indessen war der Anstoß so groß, daß sie sich entschloß, ihren Sohn aufzuklären.
Gilberte antwortete errötend:
»Ja, trotz allem habe ich ein paar Stunden gut geschlafen ... Du weißt, Julius ist noch nicht wieder da ...«
Frau Delaherche unterbrach sie durch eine Handbewegung. Seit die Geschütze donnerten, war sie in Sorge um ihren Sohn und wartete auf seine Rückkehr. Aber sie war auch eine Heldenmutter. Und sie erinnerte sich, weswegen sie heraufgekommen wäre.
»Dein Onkel, der Oberst, schickt uns den Stabsarzt Bouroche mit einem Bleistiftzettel, um uns zu fragen, ob wir hier nicht ein Lazarett einrichten lassen könnten ... Er weiß, wir haben in der Fabrik Platz genug, und ich habe den Herren schon den Hof und den Trockenraum zur Verfügung gestellt ... Du solltest jetzt aber auch herunterkommen.«
»O sofort! sofort!« sagte Henriette und trat näher. »Wir wollen helfen.«
Gilberte selbst war ganz aufgeregt und bewies eine wahre Leidenschaft für ihren neuen Beruf als Krankenpflegerin. Sie nahm sich kaum die Zeit, um sich ein Spitzentuch über das Haar zu knoten; dann gingen die drei Frauen hinunter. Als sie unten unter den großen Torweg kamen, sahen sie auf her Straße durch die beiden offenstehenden Türflügel eine Menschenansammlung. Langsam kam ein niedriges Fuhrwerk heran, eine Art Karren mit einem einzigen Pferde davor, das ein Zuavenleutnant am Zügel führte. Und sie glaubten, das wäre schon der erste Verwundete, den man ihnen brächte.
»Ja, ja! hier ist es, kommen Sie nur herein!«
Aber rasch wurden sie aus ihrer Täuschung gerissen. Der Verwundete, der auf dem Boden des Fuhrwerks lag, war Marschall Mac Mahon, dem die linke Gesäßhälfte halb abgerissen war und der nach der Unterpräfektur zurückgeschafft wurde, nachdem ihm in einem kleinen Gärtnerhause ein Notverband angelegt worden war. Er war ohne Kopfbedeckung und nur halb angezogen; die Goldstickereien seiner Uniform waren mit Staub und Blut beschmutzt. Ohne zu sprechen hatte er den Kopf gehoben und sah mit irren Blicken umher. Als er dann merkte, wie die drei Frauen ergriffen mit gefalteten Händen dies große Unglück vorüberziehen sahen, das das ganze Heer schon nach den ersten paar Schüssen in ihrem Führer traf, da neigte er mit einem schwachen väterlichen Lächeln leicht den Kopf. Ein paar danebenstehende Neugierige nahmen den Hut ab. Andere erzählten sich ganz geschäftig, General Duciot sei zum Oberbefehlshaber ernannt worden. Es war halb acht.
»Und der Kaiser?« fragte Henriette einen vor seiner Tür stehenden Buchhändler.
»Vor einer halben Stunde ungefähr ist er vorbeigekommen,« antwortete der
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