Der Zusammenbruch
er sich wieder zu der alten Bäuerin:»Na, zum Donnerwetter! Mutter, nun antworte doch mal ... Wo liegt denn Belgien?«
Diesmal hatte sie ihn verstanden. Sie streckte ihren mageren Arm nach den dichten Wäldern aus.
»Dort hinten, dort hinten!«
»Wie? Was sagst du da? ... Die Häuser, die man da hinten auf dem Felde sieht?«
»Oh, weiter, viel weiter! ... Da hinten, ganz da hinten!«
Der General erstickte plötzlich vor Wut.
»Das ist ja rein ekelhaft, so 'ne verfluchte Gegend! Nie weiß man, wie man dran ist ... Belgien lag da, so daß man Angst haben mußte, man könnte gegen seinen eigenen Willen hineingeraten; und wenn man nun hin will, dann ist's nicht mehr da ... Nein, das ist jetzt Schluß! Dann mögen sie mich fangen und mit mir machen, was sie wollen, ich leg' mich schlafen!«
Wie ein vom Zorneswind geblähter Schlauch sprang er in den Sattel, trieb sein Pferd an und jagte in der Richtung nach Sedan davon.
Der Weg wandte sich und sie stiegen jetzt nach dem Givonnegrund ab, einer zwischen hohen Abhängen eingelagerten Vorstadt, wo die Straße, von kleinen Häusern und Gärten umsäumt, zu den Wäldern hinansteigt. Augenblicklich erfüllte sie ein derartiger Strom von Fliehenden, daß Leutnant Rochas sich mit Pache und Lapoulle an der Ecke eines Platzes gegen eine Kneipe geklemmt fand. Jean und Maurice hatten große Mühe, zu ihnen zu gelangen. Sie waren alle sehr überrascht, als eine Säuferstimme sie schwerfällig anrief:
»Sieh! so'n Wiedersehen! ... Heda, ihr Sippschaft! ... Ah, wirklich, das ist doch mal ein Wiedersehen!«
Sie erkannten Chouteau, der sich in der Kneipe auf eineder Fensterbrüstungen des Erdgeschosses lehnte. Furchtbar betrunken fuhr er unter fortwährendem Rülpsen fort:
»Sagt mal, stellt euch man nicht an, wenn ihr Durst habt... Für Kameraden ist immer noch genug da.«
Mit einer unsicheren Handbewegung über die Schulter rief er jemand hinten im Zimmer heran.
»Vorwärts, du Tunichtgut... Gib den Herren da mal was zu trinken...«
Nun erschien auch Loubet, in jeder Hand eine volle Flasche, die er scherzend schwenkte. Er war nicht so betrunken wie der andere und rief mit seiner Pariser Spaßmacherstimme in dem Nasentone der Kokosmilchverkäufer an öffentlichen Festtagen:
»Ganz frische, ganz frische, wer will trinken!«
Seit sie unter dem Verwände, den Sergeanten Sapin nach der Ambulanz zu tragen, verschwunden waren, hatte sie niemand mehr gesehen. Ohne Zweifel hatten sie sich nachher verirrt und waren umhergebummelt, wobei sie nach Möglichkeit alle Winkel vermieden, wo Granaten niederfielen. Hier in dieser ausgeplünderten Kneipe waren sie dann endlich gestrandet.
Leutnant Rochas war wütend.
»Wartet nur, ihr Banditen, ich will euch picheln lehren, wenn wir andern alle um ein Haar verrecken!«
Aber Chouteau ließ sich keine Vorwürfe gefallen.
»Na, weißt du, du alter Simpel, jetzt gibt's keine Leutnants mehr, jetzt gibt es nur noch freie Männer... Die Preußen haben dir wohl noch nicht genug gegeben, daß du dich noch nach einer andern Klemme sehnst?«
Sie mußten Rochas zurückhalten, denn er wollte ihm den Schädel einschlagen. Übrigens gab sich selbst Loubet mitseinen Flaschen im Arme Mühe, den Frieden wieder herzustellen.
»Laß doch, wir brauchen uns doch nicht gegenseitig aufzufressen, wir sind doch alle Brüder.«
Und er redete Pache und Lapoulle, seinen beiden Kameraden von der Korporalschaft her, zu:
»Seit doch keine Gimpel, ihr da, und kommt herein und feuchtet euch mal den Schnabel an!«
Lapoulle zögerte einen Augenblick in dem dunklen Bewußtsein, es wäre doch schlecht, sich hier zu vergnügen, während so viele arme Teufel vor Durst verschmachteten. Aber er war so schlapp und so erschöpft vor Hunger und Durst. Plötzlich entschloß er sich doch und sprang, ohne ein Wort zu sagen, mit einem Satz in die Kneipe, wobei er Pache vor sich herstieß, der ebenfalls schweigend der Versuchung nachgab. Sie kamen nicht wieder zum Vorschein.
»Räuberbande!« wiederholte Rochas. »Man sollte sie alle erschießen!«
Jetzt hatte er nur noch Jean, Maurice und Gaude bei sich, und alle vier wurden sie nun gegen ihren Willen von dem Strome der Flüchtlinge, der die ganze Straßenbreite einnahm, dahingetrieben. Schon waren sie weit von der Kneipe entfernt. So wälzte sich die schmutzige Flut der Auflösung gegen die Gräben von Sedan hin und schlug wie die Erd- und Geröllmassen gegen die Höhen an, die ein Gewittersturm auf dem Talgrunde mit sich
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