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Der Zusammenbruch

Der Zusammenbruch

Titel: Der Zusammenbruch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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reißt. Von allen hochgelegenen Punkten der Umgebung, von allen Abhängen, aus jeder Geländefalte, über die Straße von Pierremont, vom Friedhofe, vom Maisfelde wie aus dem Givonnegrunde her rauschte der gleiche Schwarm in unaufhaltsam zunehmender Panik hervor. Und waren denn diese unglücklichen Leutezu tadeln, die fast zwölf Stunden unbeweglich unter dem blitzgleichen Feuer eines unsichtbaren Feindes ausgehalten hatten, gegen den sie nichts ausrichten konnten? Jetzt packten die Batterien sie von vorn, von der Seite und vom Rücken, die Schußrichtungen trafen immer mehr zusammen, je mehr sich die Truppen auf ihrem Rückzuge der Stadt näherten; das war eine Vernichtung aus dem Vollen, dies Gemetzel von Menschen in dem verdammten Loch, in das sie zusammengekehrt worden waren. Einige Regimenter des siebenten Korps, vor allem die von der Hochebene von Floing, zogen sich in ziemlich guter Ordnung zurück. Aber im Givonnegrunde gab es keinen Rang und keinen Führer mehr; verstört drängten sich die aus allen möglichen Überresten zusammengesetzten Truppen durcheinander: Zuaven, Turkos, Jäger, Infanteristen, die meisten waffenlos und in zerrissenen und schmutzigen Uniformen, mit schwarzen Händen und Gesichtern, in denen die blutunterlaufenen Augen aus ihren Höhlen traten, der Mund aufgeborsten und geschwollen von wütendem Geschimpfe. Zuweilen stürzte sich ein reiterloses Pferd in rasendem Galopp durch das Gedränge, warf die Leute über den Haufen und bahnte sich so eine Gasse durch die Menge, die noch lange unter der Einwirkung dieses Schreckens stehenblieb. Dann sausten Geschütze in wahnsinniger Gangart vorüber, aufgelöste Batterien, deren Mannschaften, wie von einer Art Trunkenheit ergriffen, alles über den Haufen jagten, ohne die Leute zu warnen. Das Getrappel der Menschenmassen nahm kein Ende, festgeschlossen, Seite gegen Seite, eine Massenflucht, in der sich jeder Hohlraum bei der gefühlsmäßigen Hast, dort hinunter, hinter eine schützende Mauer zu kommen, sofort wieder ausfüllt.
    Jean hob abermals den Kopf und sah nach Westen. Trotz des dicken, von den Füßen aufgewirbelten Staubes brachten die brennenden Strahlen des Tagesgestirnes die Gesichter immer noch zum Schwitzen. Das Wetter war sehr schön, der Himmel von einem wunderbaren Blau.
    »Einerlei,« wiederholte er, »es ist zu langweilig, daß dies Schwein von Sonne sich nicht entschließen kann, unterzugehen!«
    Plötzlich erkannte Maurice zu seinem Schrecken in einer jungen, gegen eine Hauswand gepreßten Frau, die von dem Menschenstrome beinahe erdrückt wurde, seine Schwester Henriette. Er hatte sie schon fast eine Minute lang erstaunt angesehen. Und nun redete sie ihn zuerst an, ohne jedes Anzeichen von Überraschung.
    »Sie haben ihn in Bazeilles erschossen ... Ja, ich war dabei... Und weil ich mir nun den Leichnam aushändigen lassen will, dacht' ich mir...«
    Sie nannte weder die Preußen noch Weiß bei Namen. Alle Welt mußte sie verstehen. Maurice begriff sie auch tatsächlich. Er betete sie an und brach in Schluchzen aus.
    »Mein armer Liebling!«
    Als Henriette gegen zwei Uhr wieder zu sich kam, befand sie sich in Balan in der Küche ihr ganz unbekannter Leute; der Kopf war ihr auf den Tisch gesunken und sie weinte. Aber ihre Tränen versiegten. In diesem schwächlichen, gebrechlichen Wesen erwachte bereits die Heldin. Sie fürchtete sich vor nichts, denn ihre Seele war stark, unüberwindlich. In ihrem Schmerz dachte sie nur das eine, den Körper ihres Gatten wiederzubekommen, um ihn zu beerdigen. Ihr erster Gedanke war, einfach nach Bazeilles zurückzukehren. Aber alles redete ihr ab und wies ihr die unbedingte Unmöglichkeitnach. Schließlich verfiel sie darauf, sie wolle jemand suchen, einen Mann, der sie begleiten könnte oder der die nötigen Schritte für sie täte. Ihre Wahl fiel auf einen Vetter von ihr, der früher zweiter Direktor an der Raffinerie Générale in Chêne gewesen war, als Weiß dort noch angestellt gewesen war. Er hatte ihren Mann sehr gern gehabt und würde ihr jetzt seinen Beistand nicht vorenthalten. Vor zwei Jahren hatte er sich infolge einer Erbschaft seiner Frau auf eine schöne Besitzung zurückgezogen, die Eremitage, deren Terrassen sich nahe bei Sedan auf der andern Seite des Givonnegrundes aufbauten. Sie befand sich auf dem Wege zur Eremitage, als sie auf all diese Hindernisse stieß, die jeden ihrer Schritte lähmten und sie in Gefahr brachten, unter die Füße getreten und getötet zu

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