Der Zusammenbruch
ich kann nichts machen. Es ist schrecklich.«
Der Hauptmann wagte zu wiederholen:
»Es ist schrecklich ... Das ist das Ende von allem.«
Und Jean zog sich zurück, als er den Stabsarzt Bouroche, der auf der Schwelle der Herberge stand, dumpf murmeln hörte: keine Manneszucht mehr, keine Strafen mehr, das Heer zum Teufel! Acht Tage weiter, und die Führer würden einen Tritt vor den Hintern kriegen; hätte man dagegen einigen dieser Halunken den Hals gebrochen, so würden die andern sich noch am Ende besonnen haben. Niemand wurde bestraft. Offiziere des Nachtrabs, die die Bedeckung des Trains fühlten, waren glücklicherweise so vorsichtig gewesen, zu beiden Seiten des Weges die Tornister und Gewehre aufsammeln zu lassen. Es fehlten schließlich nur wenige; die Leute wurden bei Tagesanbruch ganz verstohlen wieder bewaffnet und die ganze Geschichte vertuscht. Es kam Befehl, um fünf zu wecken; man weckte die Leute jedochschon um vier und beschleunigte den Rückmarsch, als ob es sicher wäre, daß die Preußen nur noch zwei oder drei Meilen weit entfernt ständen. Wieder hatten sie mit Zwieback zufrieden sein müssen; die Truppen waren nach dieser zu kurzen und fieberhaften Nacht ganz steif und hatten nichts Warmes in den Magen gekriegt. Und an diesem Morgen wurde durch den überstürzten Aufbruch ihre Haltung auf dem Marsche abermals in Frage gestellt.
Dieser Tag wurde noch schlimmer, unendlich traurig. Das Aussehen der Landschaft hatte sich geändert; sie kamen in eine bergige Gegend; auf tannenbewachsenen Abhängen stiegen die Straßen an und fielen wieder ab; und die engen Täler mit ihrem Dickicht von Ginster waren ganz von goldenen Blüten übersät. Aber über diese in der heißen Augustsonne strahlende Landschaft wehte seit gestern panische Furcht von Stunde zu Stunde immer närrischer daher. Eine Depesche, die den Ortsvorstehern anempfahl, die Einwohner zu benachrichtigen, sie täten gut, ihre Habe in Sicherheit zu bringen, brachte die Angst auf den Höhepunkt. So war der Feind da? Hätten sie wenigstens noch Zeit, sich zu retten? Alle glaubten, das Grollen des Einbruchs wachsen zu hören, das dumpfe Brausen eines über seine Ufer getretenen Flusses das sich jetzt in jedem weiteren Dorf unter Jammer und Klagen durch neue Schrecknisse steigerte.
Maurice ging wie ein Schlaftrunkener, mit blutenden Füßen und vom Tornister und dem Gewehr zermalmten Schultern. Er dachte nicht mehr, er schob sich in dem Alpdruck der ihn umgebenden Eindrücke vorwärts; er hatte das Bewußtsein für die Tritte seiner Kameraden um ihn herum verloren und empfand nur noch Jean zu seiner Rechten, der von derselben Müdigkeit und denselben Schmerzen ermattetschien. Es war jammervoll, diese Dörfer, durch die sie kamen, ein Jammer, der einem das Herz vor Angst zusammenschnürt. Wo die zurückgehenden Truppen erschienen, dieser Wirrwarr von entkräfteten, die Füße nachschleppenden Leuten, da kamen die Einwohner in Bewegung und flohen schleunigst. Vor vierzehn Tagen war das ganze Elsaß noch so ruhig gewesen und hatte den Krieg lächelnd erwartet; denn es war überzeugt, er würde in Deutschland ausgefochten werden! Nun aber wurde Frankreich überschwemmt, und bei ihnen, über ihren Häusern, auf ihren Feldern ging der Sturm nieder wie ein schrecklicher Orkan, der mit Hagel und Blitzschlag in zwei Stunden einen ganzen Landstrich vernichtet! Männer beluden vor den Türen in heftigster Verwirrung ihre Fuhrwerke mit Haufen von Einrichtungsgegenständen auf die Gefahr hin, alles zu zerbrechen. Von oben aus den Fenstern warfen Frauen noch eine letzte Matratze herunter oder reichten die Wiege heraus, die sie vergessen hatten. Das Kind banden sie darin an und befestigten sie dann oben auf dem Haufen zwischen den Beinen umgekehrter Stühle und Tische. Auf einem andern Karren wurde der alte, kranke Großvater hinten an einem Schrank festgebunden und so wie ein lebloser Gegenstand mitgenommen. Wer kein Fuhrwerk hatte, packte seinen Hausrat auf Schiebkarren; manche liefen mit einem Haufen Lumpen unter dem Arm davon, wieder andere dachten nur an ihre Uhr und drückten sie wie ein Kind ans Herz. Alles konnte man nicht mitnehmen; im Stich gelassene Sachen, zu schwere Wäscheballen blieben im Straßengraben, liegen. Einzelne schlossen vor ihrem Weggange alles ab, die Häuser mit ihren verschlossenen Türen und Fenstern schienen wie tot; die Mehrzahl aber ließ in der Eile, in der verzweiflungsvollen Gewißheit, alles würde zerstört werden, die
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