Der Zusammenbruch
altenWohnungen offen, so daß die Leere der ausgeräumten Zimmer durch die Türen und Fenster gähnte; das bot einen höchst traurigen Anblick, den der häßlichen Traurigkeit einer eroberten, von der Furcht entvölkerten Stadt, diese armen, jedem Windstoß offen stehenden Häuser, aus denen selbst die Katzen im Schauder vor dem, was nun kommen würde, entflohen waren. Dies erbarmungswürdige Schauspiel nahm bei jedem neuen Dorf an Düsterkeit zu, die Zahl der wohnungslosen Flüchtenden wurde immer größer, das Getümmel wuchs unter geballten Fäusten, Flüchen, Tränen.
Aber vor allem auf offener Landstraße, auf freiem Felde fühlte Maurice eine erstickende Angst. Je näher sie an Belfort herankamen, desto mehr glich der zusammengedrängte Zug der Flüchtlinge einem großen, ununterbrochenen Leichengefolge. Ach, die armen Menschen, die innerhalb der Mauern dieses Platzes Zuflucht zu finden hofften! Der Mann hieb auf das Pferd, die Frau lief hinterher und schleppte die Kinder. Von großen Bündeln zu Boden gedrückt, auseinander gerissen, da die Kleinen nicht folgen konnten, zogen manche Familien in Eile dahin auf dem blendend weißen, von der bleiernen Sonne durchglühten Wege. Viele hatten ihre Pantinen ausgezogen und zogen in bloßen Füßen weiter, um schneller laufen zu können; Mütter, halb angezogen, gaben, ohne den Schritt zu verlangsamen, ihren schreienden Knirpsen die Brust. Verstörte Gesichter wandten sich rückwärts, magere Hände fuhren mit Riesenbewegungen gegen den Horizont, als ob sie ihn vor dem Sturm der Panik verschließen wollten, der ihnen die Köpfe zerzauste und ihre hastig übergeworfenen Kleider peitschte. Andere, Pächter mit ihren Dienstleuten, warfen sich querfeldein und trieben ihre losgelassenen Herden, Hammel, Kühe, Ochsen, Pferde vorsich her, die sie mit Stockschlägen aus den Ställen und Hürden hatten herausjagen müssen. Sie strebten den Schluchten und Hochebenen und einsamen Wäldern zu, wobei ein Staub entstand wie ehemals bei den großen Wanderungen überfallener Völker, die erobernden Barbaren den Platz räumten. Sie mußten nun irgendwo, von einsamen Felsblöcken umhegt, in Zelten leben, so weit von jeder Straße ab, daß kein feindlicher Soldat sich dorthin wagen durfte. Flatternder Staub hüllte sie ein und verlor sich in den Tannengruppen mit dem Brüllen der Rinder und dem Klappern der Hufe, während auf der Straße der Strom der Fuhrwerke und Fußgänger immer weiter rann und die Truppen am Vorwärtskommen hinderte, ja, bei der Annäherung an Belfort so anschwoll, so sehr zu einem ausgetretenen, unwiderstehlich dahinströmenden Wildbach wurde, daß mehrfach wiederholte Haltepausen notwendig wurden.
Bei einer dieser kurzen Pausen wohnte Maurice einem Vorkommnis bei, das ihm dauernd wie ein Peitschenhieb mitten durchs Gesicht in der Erinnerung haften blieb.
Am Wegrand lag ein einzelnes Haus, die Wohnung eines armen Bauern, und das magere Anwesen dehnte sich dahinter aus. Der Mann hatte sein Feld nicht im Stiche lassen wollen, da er durch zu tiefe Wurzeln mit dem Boden verwachsen war; und so blieb er; er konnte nicht fortziehen, ohne Fetzen seines eigenen Fleisches dazulassen. Man sah ihn auf einer Bank der niedrigen Stube hingesunken, wie er den leeren Blick auf die vorbeiziehenden Soldaten richtete, deren Rückzug sein reifes Getreide dem Feinde auslieferte. Seine noch junge Frau stand neben ihm und hielt ein Kind auf dem Arm, während ein anderes sich an ihre Röcke hängte; alle drei jammerten. Plötzlich aber erschien im Rahmen der heftigaufgestoßenen Tür die Großmutter, eine sehr alte Frau, lang, mager, mit nackten Armen wie knotige Stricke, die sie wütend schwenkte. Ihr unter der Haube hervorgequollenes graues Haar flog ihr um den hagern Kopf, und ihre Wut war so groß, daß die Worte, die sie schrie, ihr in der Kehle zu unbestimmten Lauten erstickten.
Zuerst fingen die Soldaten an zu lachen. Die sah gut aus, die alte Närrin! Dann verstanden sie einzelne Worte; die Alte schrie:
»Schufte! Räuber! Feiglinge! Feiglinge!«
Ihre immer durchdringendere Stimme spie ihnen den Vorwurf der Feigheit mit aller Kraft entgegen. Sie hörten auf zu lachen; eine eisige Kälte schien durch die Reihen zu ziehen. Die Leute ließen den Kopf hängen und sahen wo anders hin.
»Feiglinge! Feiglinge! Feiglinge!«
Auf einmal schien sie noch zu wachsen. Traurig, mager, richtete sie sich in ihren lumpigen Kleidern hoch auf und schwenkte ihren langen Arm mit einer solchen
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