Der Zusammenbruch
sich aber draußen befand, blieb er angesichts der furchtbaren Verstopfung, die sich allmählich vollzogen hatte, zaudernd stehen. Straßen und Plätze waren derart vollgepackt und gestopft mit Menschen, Pferden und Geschützen, daß die ganze feste Masse wie mit Hilfe einer Riesenramme gewaltsam eingestampft erschien. Während auf den Wällen die Regimenter biwakierten, die sich in leidlich guter Ordnung zurückgezogen hatten, waren die dichten Überreste aller Korps, die Flüchtlinge aller Waffengattungen in wimmelndem Gedränge, in einem dicken, schwerflüssigen Strom, in dem man weder Hand noch Fuß rühren konnte, über die Stadt hereingeflutet. Die Geschütze, Munitionswagen und unzählige andere Fuhrwerke hatten sich mit ihren Rädern verheddert. Die mit Peitschen und Stößen nach allen Richtungen gehetzten Pferde hatten weder zum Vorwärtsgehen noch nach rückwärts Raum. Die Mannschaften waren taub gegen alle Drohungen und drangen in die Häuser, wo sie verzehrten, was sie vorfanden, und sich in den Zimmern oder in den Kellern niederlegten, wo sie konnten. Viele brachen auch vor den Türen nieder und versperrten die Zugänge. Andere hatten nicht mehr genügend Kraft, um sich weiterzuschleppen, und lagen auf den Fußsteigen in einem wahren Todesschlaf und standen selbst nicht unter den Tritten auf, die ihre Glieder trafen; sie ließen sich lieber zertrampeln, als sich die Mühe zu machen, ihren Platz zu wechseln.
Nun verstand Delaherche die gebieterische Notwendigkeit der Übergabe. Auf manchen Plätzen stießen die Munitionswagen aneinander; eine einzige zwischen sie gefallene preußische Granate hätte alle miteinander in die Luft gesprengt und ganz Sedan hätte wie eine Fackel gebrannt. Und was sollte mit diesem Haufen von Elenden geschehen, die vonHunger und Ermüdung zermalmt, weder Patronen noch Lebensmittel hatten? Das Aufräumen der Straßen allein hätte mindestens einen ganzen Tag gekostet. Die Festung selbst war unbewaffnet, die Stadt ohne Vorräte. Das waren die Gründe gewesen, die die Verständigsten, die sich trotz ihres großen Schmerzes als gute Patrioten einen klaren Blick für die Sachlage bewahrt hatten, im Kriegsrate zur Geltung gebracht hatten; und die tollkühnsten Offiziere, die anfingen zu zittern, während sie riefen, ein Heer dürfe sich nicht derart übergeben, mußten den Kopf senken, denn sie fanden keine in die Tat umsetzbare Möglichkeit, den Kampf am andern Morgen wieder aufzunehmen.
Auf dem Turenneplatz und dem Uferplatz konnte Delaherche sich schließlich mit vieler Mühe einen Weg durch das Gewirre bahnen. Als er am Gasthause Zum goldenen Kreuz vorbeikam, machte der Speisesaal, in dem eine Anzahl Generale stumm um die leere Tafel herum saßen, auf ihn den Eindruck einer düstern Geistererscheinung. Es gab nichts mehr, nicht einmal Brot. General Bourgain-Desfeuilles indessen, der in der Küche herumtobte, mußte wohl noch etwas gefunden haben, denn er wurde plötzlich ganz still und stieg mit einem fettigen Papier in den Händen schleunigst die Treppe wieder hinauf. Vom Platze aus blickte eine derartige Menge durch die Scheiben auf diese düstere, von der Not reingefegte Wirtstafel, daß der Fabrikant von seinen Ellbogen Gebrauch machen mußte; er war wie angeleimt und verlor manchmal infolge eines plötzlichen Druckes das Stück Weg, das er schon gewonnen hatte. In der Großen Straße aber wurde die Menge undurchdringlich, und einen Augenblick packte ihn Verzweiflung. Alle Geschütze einer Batterie schienen hier übereinandergeworfen zu sein. Er entschloß sich, über die Lafettenzu klettern, stieg auf die Geschütze und sprang auf die Gefahr hin, sich die Beine zu brechen, von Rad zu Rad. Schließlich versperrten die Pferde ihm den Weg; er bückte sich und kroch zwischen den Beinen und unter den Bäuchen der elenden, vor Hunger halb toten Geschöpfe durch. Als er dann so nach einer mühseligen Viertelstunde auf die Höhe der Rue Saint-Michel gelangte, jagten ihm die immer mehr zunehmenden Schwierigkeiten einen mächtigen Schreck ein, und er dachte schon daran, sich in diese Straße zu werfen, um dann weiter durch die Rue des Laboureurs zu gehen; er hoffte, diese entlegenen Straßen würden weniger verstopft sein. Das Unglück wollte aber, daß sich hier ein übelberüchtigtes Haus befand, das von einer Bande betrunkener Soldaten belagert wurde; und da er befürchtete, in dieser Drängelei noch Prügel zu bekommen, kehrte er auf der Stelle um. Jetzt wurde er aber
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