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Der Zusammenbruch

Der Zusammenbruch

Titel: Der Zusammenbruch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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Bildung, aber auch unglaublicher Unwissenheit auf allen Gebieten, die er hätte verstehen müssen, und prahlte er nicht mit seinem Wissen derartig, daß er sichselbst blendete und ihm der Kopf durch die Sucht nach Vergnügen und das trügerische Wohlleben seiner Zeit völlig verdreht wurde? Dann tauchte etwas anderes vor ihm auf: sein Großvater, im Jahre 1780 geboren, einer der Helden der großen Armee, einer der Sieger von Austerlitz, Wagram und Friedland; sein Vater, geboren 1811, als kleiner Beamter dem Bureaukratismus verfallen, Lehrer in Chêne-Populeur, wo er sich vernutzte; er selbst, 1842 geboren, wie ein Herr erzogen, als Rechtsanwalt eingetragen, fähig der schlimmsten Dummheiten und der höchsten Begeisterung, besiegt bei Sedan in einem Schicksalsschlage, den er für gewaltig, ja für den Abschluß einer Welt hielt; und dies Herunterkommen seines Geschlechts, das ihm erklärte, wie das in den Großvätern siegreiche Frankreich in seinen Enkeln geschlagen werden, konnte, zermalmte sein Herz wie ein Unglücksfall in der eigenen Familie, der langsam immer schlimmer werdend, schließlich, sobald die Stunde schlug, in verhängnisvoller Vernichtung das Ende herbeiführte. Im Falle eines Sieges hätte er sich so. tapfer und triumphierend gefühlt! Angesichts der Niederlage verfiel er in weibischer Nervenschwäche in einen jener fürchterlichen Anfälle von Verzweiflung, in denen die ganze Welt zugrunde geht. Es war alles aus, Frankreich war tot. Schluchzen erstickte ihn, er weinte und rang die Hände und fand die stammelnden Laute seines Kindergebetes wieder:
    »Mein Gott, nimm mich zu dir... Mein Gott, nimm alle die Unglücklichen, die leiden, zu dir...«
    Jean, der auf der Erde in einen Mantel gewickelt dalag, begann sich zu rühren. Schließlich setzte er sich erstaunt aufrecht.
    »Nanu, Junge, bist du krank?«
    Als er aber merkte, es seien nur wieder Gedanken zumJungehundekriegen, wie er sagte, wurde ihm ganz väterlich zumute.
    »Na, na, was hast du denn? Mußt doch nicht um nichts so heulen.«
    »Ach!« jammerte Maurice, »jetzt ist alles aus! Geh' doch, wir können nur alle Preußen werden!«
    Und als sein Waffengefährte sich mit dem Hartschädel des Ungebildeten hierüber ganz erstaunt zeigte, versuchte er ihm die Erschöpfung ihrer Rasse klarzumachen, ihr Verschwinden unter der notwendig kommenden Flut neuen Blutes. Aber der Bauer wies eine derartige Erklärung mit hartnäckigem Kopfschütteln von sich ab.
    »Was? Mein Feld sollte mir nicht mehr gehören? Ich sollte es mir von den Preußen nehmen lassen, solange ich noch nicht vollständig tot bin und noch meine beiden Arme habe?... Geh doch los!«
    Dann gab er ihm, so gut er konnte, seine Auffassung zum besten. Sicher hätten sie mächtige Hiebe gekriegt, das war gewiß! Aber vielleicht waren doch noch nicht alle totgeschlagen, es waren doch wohl noch ein paar über, und die würden schon genügen, um das Haus wieder aufzubauen, wenn sie nur fixe Kerls wären, die hart arbeiteten und ihren Lohn nicht gleich wieder versöffen. Mit einer Familie kann man sich, wenn man sich Mühe gibt und etwas beiseite legt, immer aus der Klemme ziehen, auch in den schlimmsten Unglücksfällen. Zuweilen ist es auch gar nicht übel, wenn man mal ordentlich eins an die Ohren kriegt: das macht nachdenklich. Und mein Gott! Wenn wirklich etwas an ihnen faul wäre, ein paar unter ihnen verrottet, na ja! Dann wäre es doch besser, wenn die mit der Art abgehauen würden, als daß sie alle wie an der Cholera verreckten.
    »Verloren? Ach nein, nein!« wiederholte er mehrmals hintereinander. »Ich bin gar nicht verloren, so fühle ich mich ganz und gar nicht!«
    Und steif, wie er war, denn die Haare waren ihm noch von dem Blut aus seiner Schramme zusammengeklebt, richtete er sich in seinem Lebensdrange hoch auf; er wollte wieder zu seinem Arbeitszeug oder zum Pfluge greifen, um nach seinen Worten sein Haus wieder aufzubauen. Er stammte von dem alten verständigen, ausdauernden Boden her, dem alten Lande der Vernunft, der Arbeit und der Sparsamkeit.
    »Aber das ist einerlei,« fuhr er fort, »für den Kaiser tut es mir doch leid... Es sah doch so aus, als gingen die Geschäfte gut, das Getreide wurde gut bezahlt... Aber er war sicher zu dumm, auf solche Geschichten läßt man sich doch nicht ein!«
    Maurice aber blieb niedergeschlagen und machte nur eine trostlose Handbewegung.
    »Ach, der Kaiser! Doch, ja, eigentlich hatte ich ihn trotz meiner Ansichten über Freiheit und

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