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Der Zusammenbruch

Der Zusammenbruch

Titel: Der Zusammenbruch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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durch einen Überfall wieder einzunehmen, die Wiedereröffnung des Weges nach Mézières oder sogar ein unwiderstehlicher Durchbruch, um sich mit einem Satze nach Belgien hineinzuwerfen. Andere, das wäre wahr, hätten gar nichts gesagt, sie hätten das Verhängnisvolle dieses Schicksalsschlages gefühlt und jede Bedingung angenommen und unterzeichnet und vor Freude über die Erleichterung noch aufgejauchzt.
    »Guten Abend!« schloß Bouroche. »Ich will versuchen, zwei Stunden zu schlafen, denn ich habe es sehr nötig.«
    Als Delaherche nun allein blieb, ging ihm der Atem aus. Was? Sollte das wahr sein, würden sie wieder anfangen zu fechten und Sedan in Brand stecken und dem Boden gleichmachen lassen? Das würde ganz unvermeidlich sein, und sobald die Sonne hoch genug stehen würde, um alle Schrecken des Gemetzels beleuchten zu können, würde das Gräßliche geschehen. Ganz unbewußt stieg er noch einmal die steile Treppe zum Boden empor und stand zwischen den Schornsteinen,am Rande der Plattform, die die Stadt überblickte. Um diese Stunde befand er sich da oben in tiefster Finsternis, in einem unendlichen Meer dahinrollender, düsterer Wolken, in dem er zunächst nichts unterscheiden konnte. Dann sah er die Gebäude seiner Fabrik unter sich liegen, sie lösten sich zuerst in unbestimmten Massen soweit los, daß er sie erkennen konnte: den Maschinenraum, den Aufbereitungsraum, die Trockenräume, die Vorratsräume, und dieser Anblick, diese gewaltige Masse der seinen Stolz und seinen Reichtum bildenden Baulichkeiten überwältigten ihn vor Mitleid mit sich selbst, wenn er daran dachte, daß von diesem allen vielleicht schon in ein paar Stunden nichts als ein Aschenhaufen mehr übrig sein würde. Seine Blicke erhoben sich wieder gegen den Horizont und schweiften in der gewaltigen Dunkelheit umher, in der die Drohung für morgen schlummerte. Im Süden, auf der Seite nach Bazeilles hin, flogen Funkengarben über den in der Glut versunkenen Häusern in die Höhe; im Norden brannte der Hof La Garenne, der abends in Brand geraten war, immer noch und übergoß die Bäume mit einem blutroten Licht. Außer diesen beiden flammte kein anderes Feuer auf; sonst lag ein unergründlicher Abgrund da, in dem eine durch alle möglichen Gerüchte erzeugte Furcht umherschwirrte. Dort hinten, sehr weit entfernt von ihm, vielleicht am Ende auf den Wällen, weinte jemand. Vergeblich suchte er den Schleier zu durchdringen und die Marfée, den Liry, die Batterien von Frénois oder Wadelincourt zu erkennen, diesen Gürtel bronzener Bestien, deren vorgebeugten Hals mit dem offenen Rachen er dort ahnte. Und als er seinen Blick nach der Stadt zurückwandte, hörte er die Angst um sich her atmen. Es war nicht allein der schlechte Schlaf der auf dem Straßenpflaster liegenden Soldaten, das dumpfe Geräusch dieser Masse vonMenschen, Pferden und Geschützen. Was er zu empfinden glaubte, war vielmehr die angsterfüllte Schlaflosigkeit seiner Mitbürger und Nachbarn, die gleich ihm vom Fieber geschüttelt wurden und aus Angst vor dem kommenden Tage nicht schlafen konnten. Sie mußten alle wissen, daß die Übergabe nicht unterzeichnet wäre, und alle zählten sie die Stunden und zitterten bei dem Gedanken, daß, wenn sie nicht unterzeichnet würde, sie nur in ihre Keller hinabsteigen könnten und dort sterben, vernichtet, in die Trümmer ihrer Häuser eingemauert. Scheinbar aus der Rue des Voyards schallte eine Stimme zu ihm empor, die inmitten eines plötzlichen Waffengeklirres »Mord!« schrie. Er beugte sich vor und hing so in der finstern Nacht in dem nebeligen, sternenlosen Himmel; ein Schauder packte ihn, daß ihm die Haut am ganzen Körper erschauerte.
    Maurice wachte unten auf dem Sofa bei Tagesanbruch auf. Ganz verkrümmt, die Augen auf die Fensterscheiben gerichtet, die sich allmählich in der bleiernen Dämmerung erhellten, rührte er sich nicht. In der scharfen Klarheit des Erwachens tauchten ihm schreckliche Erinnerungen wieder auf, die verlorene Schlacht, die Flucht, all das Unheil. Er sah alles, auch die geringsten Kleinigkeiten, und litt entsetzlich unter der Niederlage, deren Nachhall so sehr bis zu den Wurzeln seines Wesens herunterreichte, daß er sich fühlte, als habe er selbst sie verschuldet. Und immer weiter dachte er über all dies Unheil nach und fand seine Selbstvernichtungsfähigkeit bei dieser Untersuchung nur noch geschärft. Bot er denn nicht das beste Beispiel, war er nicht ein echtes Zeitkind, gewiß von glänzender

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