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Der Zusammenbruch

Der Zusammenbruch

Titel: Der Zusammenbruch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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hatten, bekamen etwas zu essen. Und als Jean den Trick begriffen hatte, wie er sagte, brachte er Maurice schließlich mit an die Brücke heran, um nach Nahrung auszuspähen.
    Es war schon vier Uhr, und sie hatten an diesem schönen, sonnenwarmen Donnerstag noch nichts gegessen, als sie plötzlich zu ihrer Freude Delaherche entdeckten. Ein paar Bürger aus Sedan hatten gleich ihm mit vieler Mühe die Erlaubnis erhalten, sich die Gefangenen anzusehen, um ihnen Lebensmittelzu bringen; Maurice hatte auch schon mehrfach seine Überraschung ausgedrückt, daß er nichts von seiner Schwester hörte. Sobald sie Delaherche von weitem erkannten, der mit einem Korbe beladen war und unter jedem Arm ein Brot trug, stürzten sie vorwärts; sie kamen zu spät; es war eine derartige Drängelei entstanden, daß der Korb und eins der Brote ihm schon weggenommen und verschwunden waren, ohne daß der Tuchfabrikant auch nur Zeit gehabt hätte, sich über den Raub klar zu werden.
    »Ach, meine armen Freunde!« stammelte er ganz verdutzt und überwältigt, obwohl er in seiner Sucht nach Volkstümlichkeit mit einem Lächeln auf den Lippen und einer gutmütigen, gar nicht hochmütigen Miene auf sie zu kam.
    Jean hatte sich des andern Brotes bemächtigt und verteidigte es; und als er und Maurice am Weglande saßen und es mit mächtigen Bissen verschlangen, berichtete Delaherche ihnen. Seiner Frau ging es, Gott sei Dank, recht gut. Er war nur über den Oberst beunruhigt, der in große Niedergeschlagenheit verfallen war, obschon seine Mutter ihm dauernd vom Morgen bis zum Abend Gesellschaft leistete.
    »Und meine Schwester?« fragte Maurice.
    »Ihre Schwester, richtig!... Sie ist mit mir gekommen und hat die beiden Brote getragen. Aber sie mußte da drüben auf der andern Seite des Kanals bleiben. Der Posten wollte sie unter keinen Umständen durchlassen... Sie wissen doch, die Preußen haben allen Frauen den Zutritt zur Halbinsel strengstens verboten.«
    Nun sprach er von Henriette und ihren vergeblichen Bemühungen, ihren Bruder zu sehen und ihm zu helfen. In Sedan hatte ein Zufall sie mit dem Vetter Günther, dem preußischen Gardehauptmann, zusammengeführt. Er warmit seiner trocknen, harten Miene an ihr vorbeigegangen und hatte getan, als kennte er sie nicht. Ihr war das Herz in die Kehle gestiegen, als befände sie sich angesichts eines der Mörder ihres Mannes, und sie hatte zuerst ihren Schritt beschleunigt. Dann war sie in einem plötzlichen Stimmungswechsel, den sie sich nicht zu erklären vermochte, wieder umgekehrt und hatte ihm mit rauher, vorwurfsvoller Stimme alles über Weiß' Tod erzählt. Er aber hatte nur eine ausweichende Handbewegung gemacht, als er von dem Tode seines Verwandten hörte; das war eben Kriegslos, er hätte auch getötet werden können. Kaum ein Zittern war über sein Soldatengesicht gelaufen. Dann hatte sie ihm von ihrem gefangenen Bruder erzählt und ihn angefleht, sich für ihn zu verwenden, damit sie ihn sehen könne, aber er hatte jede Einmischung abgelehnt. Die Verordnungen wären sehr scharf; er sprach von dem deutschen Willen wie von etwas Heiligem. Als sie ihn verließ, hatte sie das Gefühl gehabt, als halte er sich für einen Richter über Frankreich, unduldsam und voll der dünkelhaften Zurückhaltung des Erbfeindes, die der Haß gegen die Rasse, die er zu züchtigen hatte, nur noch erhöhte.
    »Immerhin,« schloß Delaherche, »etwas haben Sie heute abend doch zu essen gehabt; aber es bringt mich zur Verzweiflung, daß ich, wie ich befürchte, keine weitere Erlaubnis bekommen werde.«
    Er fragte sie, ob sie ihm keine Aufträge mitzugeben hätten, und nahm diensteifrig ein paar mit Blei geschriebene Briefe an sich, die ihm andere Soldaten anvertrauten; denn man hatte gesehen, wie die Bayern sich mit den Briefen, die sie zu befördern versprochen hatten, ihre Pfeifen anzündeten.
    Als Maurice und Jean ihn dann bis zur Brücke begleiteten, rief Delaherche:
    »Halt! Sehen Sie Henriette da hinten nicht?... Sie können ganz genau sehen, wie sie ihr Taschentuch schwenkt.«
    Jenseits der Postenkette konnten sie tatsächlich eine schmächtige, kleine Gestalt in der Menge unterscheiden, einen weißen Fleck, der im Sonnenschein zitterte. Tief gerührt hoben sie alle beide die Arme und antworteten durch ein wütendes Schütteln ihrer Hände.
    Am folgenden Tag, einem Freitag, machte Maurice seinen schlimmsten Tag durch. Jedoch hatten sie nach einer ruhigen Nacht in dem kleinen Gehölz mal wieder das Glück,

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