Der Zusammenbruch
von ihnen losziehen zu sehen, und ließ sich soweit herab, auf der Straße aufzupassen, ob nicht gerade ein Streiftrupp herumstriche; Silvine dagegen war gerade mit dem Flicken der alten Bluse des Pflegers fertig geworden, die auf dem Arme die Binde mit dem roten Kreuz trug. Der Doktor, der vor der Abfahrt Jeans Bein abermals untersucht hatte,konnte noch nicht sicher sagen, ob er es erhalten könne. Der Verwundete lag immer noch in einer unüberwindlichen Schlaftrunkenheit, erkannte niemand, sprach auch nicht. Und Maurice wollte schon fortgehen, ohne ihm Lebewohl zu sagen, als er, während er sich über ihn beugte, um ihn zu umarmen, sah, wie er die Augen weit öffnete und die Lippen bewegte, um mit ganz leiser Stimme zu sprechen:
»Du gehst fort?«
Und dann, als sie sich darüber wunderten:
»Ja, ich habe euch wohl gehört, aber ich konnte mich nicht rühren. Nimm nun all das Geld mit. Sieh mal in meiner Hosentasche nach.«
Von dem Gelde aus der Kriegskasse, das sie sich geteilt hatten, blieben jedem von ihnen ungefähr noch zweihundert Francs.
»Das Geld!« rief Maurice. »Das hast du aber ja viel nötiger als ich mit meinen gesunden Beinen! Mit zweihundert Francs kann ich schon nach Paris kommen und mir nachher den Schädel einschlagen lassen, das kostet nichts ... Aber trotzdem auf Wiedersehen, mein Alter, und hab' Dank dafür, daß du was Vernünftiges und Ordentliches aus mir gemacht hast, denn ohne dich wäre ich ganz sicher irgendwo am Rande eines Feldes liegengeblieben und wie ein Hund verreckt.«
Jean brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen.
»Du hast mir nichts zu danken, wir sind quitt ... Mich hätten doch die Preußen da unten aufgepickt, wenn du mich nicht auf deinem Rücken weggeschleppt hättest. Und gestern hast du mich ihnen wieder aus den Krallen geholt ... Du hast mir's schon zweimal vergolten, und jetzt wäre ich dran, mein Leben hinzugeben ... Ach, wie wird mir zumute sein, wenn du nicht mehr da bist!«
Seine Stimme zitterte und Tränen traten ihm in die Augen.
»Gib mir noch einen Kuß, mein Junge.«
Und sie küßten sich, und wie an dem Abend im Gehölz lag in diesem Kusse die Brüderlichkeit all der zusammen durchgemachten Gefahren, die paar gemeinsam durchlebten Wochen heldenhaften Daseins, die sie enger aneinander geschlossen hatte, als Jahre es im gewöhnlichen Leben vermocht hätten. Die Tage ohne Brot, die Nächte ohne Schlaf, die übermäßigen Anstrengungen, die fast fortwährende Todesgefahr zogen sich durch ihre zärtliche Zuneigung. Können sich jemals zwei Herzen wieder voneinander losmachen, wenn die Hingabe des eigenen Selbst sie derart miteinander verschmolzen hat? Indessen war der Kuß, den sie im Dunkel der Bäume austauschten, voll neuer Hoffnung gewesen, die die Flucht vor ihnen eröffnete; in diesem Kusse dagegen lagen jetzt alle Schauer des Lebewohls. Würden sie sich noch eines Tages wiedersehen? Und wie, unter was für schmerzhaften oder freudigen Umständen?
Doktor Dalichamp, der schon in seinen kleinen Wagen gestiegen war, rief nach Maurice. Der küßte noch einmal seine Schwester Henriette von ganzem Herzen, und sie sah ihn schweigend, tränenüberströmt an, leichenblaß in ihren schwarzen Witwenkleidern.
»Ich vertraue dir meinen Bruder an... Sorge gut für ihn und Hab' ihn so lieb wie ich selber!«
4.
Die Kammer war ein großer Raum mit Steinfliesen, einfach mit Kalk geweißt, und hatte früher zum Obstaufbewahrengedient. Sie roch noch sehr gut nach Äpfeln und Birnen; als einzige Einrichtung enthielt sie eine eiserne Bettstelle, einen weißgescheuerten Tisch und zwei Stühle, außer einem alten Nußbaumholzschrank mit gewaltigen Seitenwänden, in den eine ganze Welt hineinging. Aber die Ruhe, die in ihm herrschte, war von tiefer Süße, man hörte nichts in ihm als gedämpftes Geräusch vom Stalle her, schwaches Klappern von Holzschuhen und das Brüllen der Rinder. Durch das nach Süden gelegene Fenster fiel heller Sonnenschein. Es bot einen Ausblick nur auf ein Stück Hügel und ein von einem kleinen Holze begrenztes Kornfeld. Und diese verschlossene, geheimnisvolle Kammer war vor allen Augen so wohl verborgen, daß kein Mensch in der Welt ihr Dasein ahnen konnte.
Henriette brachte sofort alles in Ordnung: um allen Verdacht zu vermeiden, wurde abgemacht, nur sie und der Doktor sollten zu Jean hineingehen. Silvine durfte nicht hinein, ohne daß er nach ihr rief. Am frühen Morgen wurde alles durch die beiden Frauen aufgeräumt; von da
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