Der Zusammenbruch
teilnahm, das sich jetzt von der Maas zurück gegen Süden ins Aisnetal wandte. Man wagte immer noch nicht, die Leute abkochen zulassen; sie mußten sich mit Kaffee und Zwieback begnügen, denn »der mit dem Scheuerlappen« galt nun, wie alle wiederholten, ohne zu wissen warum, für den Mittag. Gerade eben war ein Adjutant an den Marschall abgeschickt, um das Herankommen der Hilfe zu beschleunigen, da das Eintreffen der beiden feindlichen Armeen immer mehr zur Gewißheit wurde. Drei Stunden später ging ein zweiter Offizier im Galopp nach Chêne ab, wo das große Hauptquartier sich befand, um unmittelbareBefehle von dort einzuholen; so sehr war die Unruhe infolge der von einem Ortsvorsteher überbrachten Meldungen angewachsen, der hunderttausend Mann bei Grand-Pré gesehen haben wollte, während weitere hunderttausend über Buzancy herankamen.
Um Mittag war immer noch kein einziger Preuße da. Um ein, um zwei Uhr noch keiner. Nun aber traten Müdigkeit und Zweifel auf. Spöttische Stimmen begannen über die Generäle herzuziehen. Vielleicht hatten sie ihren Schatten an der Wand gesehen. Brillen wurden ihnen empfohlen. Ulkige Brüder, alle Welt zu belästigen, wenn nichts los war! Ein Spaßvogel schrie:
»Hier soll's wohl wieder gehen wie da unten bei Mülhausen?«
Bei diesen Worten krampfte sich Maurices Herz in angstvoller Erinnerung zusammen. Er rief sich die kindische Flucht ins Gedächtnis zurück, die Panik, die das siebente Korps zehn Meilen von bannen riß, ohne daß ein Deutscher sichtbar wurde. Und dasselbe Abenteuer ging jetzt wieder los, das fühlte er ganz klar und bestimmt. Daß der Feind sie vierundzwanzig Stunden nach dem Scharmützel bei Grand-Pré nicht angriff, lag einfach daran, daß die vierten Husaren nur auf aufklärende Kavallerie gestoßen waren. Die eigentlichen Kolonnen mußten noch weit, vielleicht zwei Tagemärsche entfernt stehen. Dieser Gedanke jagte ihm einen plötzlichen Schrecken ein, wenn er sich überlegte, wieviel Zeit sie verloren hätten. In drei Tagen hatten sie nicht die zwei Kilometer von Contreuve nach Vouziers zurückgelegt. Am 25. und 26. waren die andern Armeekorps nach Norden hinaufgezogen unter dem Vorwande, sich mit Vorräten versorgen zu müssen; und jetzt, am 27., gingen sie wieder nach Süden,um eine Schlacht zu liefern, die ihnen niemand anbot. Ebenso wie die vierten Husaren hatte sich die Brigade Bordas auf den verlassenen Argonnenübergängen für verloren gehalten und zog ohne Not erst die ganze Division, dann das siebente Korps und schließlich die ganze Heeresgruppe zur Hilfe auf sich. Maurice dachte daran, welchen unschätzbaren Preis jede Stunde habe in diesem törichten Plan, Bazaine die Hand zu reichen, ein Plan, den nur ein geistvoller Führer mit zuverlässigen Soldaten unter der Bedingung hätte ausführen können, daß er im Sturm geradeaus über alle Hindernisse weggeschritten wäre.
»Wir sind verloren!« sagte er, von Verzweiflung ergriffen, in einer blitzartig über ihn kommenden Erleuchtung, zu Jean.
Als dessen Augen sich dann erweiterten, weil er das nicht verstehen konnte, fuhr er fort, ihm mit halber Stimme von den Führern zu erzählen: »Sie sind eher dumm als schlecht, das ist sicher, und haben kein Glück. Sie wissen nichts, sehen nichts kommen, sie haben keinen Plan, keine Gedanken, nicht einen einzigen glücklichen Einfall ... Ach, alles kehrt sich gegen uns, wir sind verloren!«
Und diese Entmutigung, über die Maurice, der kluge und gebildete Junge, nachsann, sie wuchs und lagerte sich allmählich schwer auf die Truppe, die ohne Grund in einer verzehrenden Spannung unbeweglich, fest dalag. Im Verborgenen waren der Zweifel, das Vorgefühl der Lage in den dicken Schädeln an der Arbeit; und da war kein Mann, so beschränkt er auch sein mochte, der nicht das Unbehagen empfunden hätte, schlecht geführt zu werden, unrichtig verschleppt und auf gut Glück in das unseligste aller Abenteuer hineingestoßen zu werden. Guter Gott, was hatten sie da noch zu tun, wenn die Preußen doch nicht kamen? Entweder sollteman sofort fechten oder sie irgendwo ruhig schlafengehen lassen. Sie hatten genug. Seit der letzte Adjutant nach Befehlen abgegangen war, war die Erregung von Minute zu Minute gewachsen; es bildeten sich Gruppen und man sprach und stritt ganz laut. Die von dieser Bewegung angesteckten Offiziere wußten nicht, was sie den Soldaten antworten sollten, die es wagten, sie zu fragen. Um fünf Uhr, als sich das Gerücht verbreitete, der
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