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Der Zusammenbruch

Der Zusammenbruch

Titel: Der Zusammenbruch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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Kind!«
    Und Maurice blieb wie angewurzelt im Finstern auf einer Treppenstufe stehen. Mit vorgebeugtem Halse übersah er durch ein Oberlicht ein Schauspiel, das er als unvergeßliches Andenken mitnahm.
    Im Hintergrunde des spießbürgerlichen, kalten Zimmers saß der Kaiser vor einem kleinen für ihn gedeckten Tisch, an dessen Ecken zwei Leuchter standen. Zwei Adjutanten standen stumm an der Wand. Ein Tafeldiener stand neben dem Tisch und wartete auf. Das Glas war unbenutzt, das Brot unberührt, ein Stück weißes Hühnerfleisch wurde auf seinem Teller kalt. Der Kaiser starrte unbeweglich auf das Tischtuch mit den unsichern, trüben, tränenerfüllten Augen, die er schon in Reims gesehen hatte. Aber er schien müde, und als er sich endlich entschlossen und wie mit einer gewaltigen Anstrengung zwei Bissen zum Munde geführt hatte, schob er den Rest mit der Hand weg. Er hatte gegessen. Ein Ausdruck heimlich ausgestandenen Leidens ließ sein blasses Gesicht noch bleicher erscheinen.
    Als Maurice unten am Eßzimmer vorbeikam, wurde dessen Tür heftig aufgerissen und er sah im Kerzenschimmer durch den Dunst der Schüsseln eine Tafel voller Stallmeister, Adjutanten, Kammerherren, unter lautem Stimmengewirr im Begriff, die Flaschen aus dem Gepäckwagen zu leeren, Geflügel zu verschlingen und Tunken aufzuwischen. Die Gewißheit, daß es zurückgehe, nachdem die Depesche des Marschalls abgegangen war, begeisterte all diese Leute. In acht Tagenwollten sie in Paris wieder in einem ordentlichen Bette liegen.
    Da fühlte Maurice sich plötzlich von schrecklicher Müdigkeit niedergedrückt; es war sicher, das ganze Heer ging zurück, und er brauchte nur noch schlafen und auf den Durchzog des siebenten Korps zu warten. Er ging wieder über den Platz zum Apotheker Combette, wo er wie im Traume saß. Dann kam es ihm so vor, als werde sein Fuß verbunden und er nach oben in eine Kammer gebracht. Und dann war dunkle Nacht, das Nichts. Er schlief erschöpft, ohne zu atmen. Aber nach einer unendlichen Zeit, Stunden oder Jahrhunderten, lief ein Schauder durch seinen Schlaf; er setzte sich im Dunkeln aufrecht. Wo war er? Was war das für ein ununterbrochen rollender Donner, der ihn aufgeweckt hatte? Sofort erinnerte er sich und lief ans Fenster, um nachzusehen. Unten in der Finsternis zog auf dem für gewöhnlich zur Nachtzeit so ruhigen Platze Artillerie in einem nicht endenwollenden Trabe von Menschen, Pferden und Kanonen vorbei, so daß die kleinen Häuser erzitterten. Eine ihm unverständliche Unruhe ergriff ihn bei diesem plötzlichen Aufbruch. Wieviel Uhr mochte es sein? Auf dem Stadthause schlug es vier. Und er zwang sich zur Ruhe, indem er sich sagte, dies sei einfach der Beginn der Ausführung der Rückzugsbefehle vom Abend vorher, als bei einer Drehung des Kopfes ein neues Schauspiel ihn abermals in Angst versetzte: das Eckfenster beim Notar war immer noch hell, und die Gestalt des Kaisers zeichnete sich in regelmäßigen Pausen klar als dunkler Schattenriß darauf ab.
    Lebhaft fuhr Maurice in die Hosen, um nach unten zu gehen. Aber Combette kam schon mit einer Kerze in der Hand unter heftigen Gebärden nach oben.
    »Ich sah Sie von unten, als ich vom Ortsvorsteher zurückkam, und wollte Ihnen erzählen ... Denken Sie mal, sie haben mich noch nicht schlafen lassen; seit zwei Stunden arbeiten wir schon an neuen Anforderungen, der Ortsvorsteher und ich ... Ja, alles ist mal wieder umgedreht. Ach, der Offizier, der die Depesche nach Paris nicht abgehen lassen wollte, der hatte verdammt recht!«
    Und so fuhr er lange in abgebrochenen, ungeordneten Sätzen fort, und schließlich begriff der junge Mann alles, stumm, mit zusammengekrampftem Herzen. Gegen Mitternacht war eine Depesche des Kriegsministers als Antwort auf die des Marschalls gekommen. Der genaue Wortlaut war nicht bekannt; aber ein Adjutant hatte im Stadthause ganz laut gesagt, daß die Kaiserin und der Ministerrat eine Revolution in Paris befürchteten, wenn der Kaiser zurückkäme und Bazaine im Stiche ließe. Die Depesche, die über die wahren Stellungen der Deutschen schlecht unterrichtet war und an einen Vorsprung der Heeresgruppe von Châlons zu glauben schien, den diese gar nicht mehr besaß, forderte unter einem ungewöhnlichen Leidenschaftsausbruch den Vormarsch trotz allem.
    »Der Kaiser hat den Marschall rufen lassen,« fügte der Apotheker hinzu, »und sie haben sich fast eine Stunde lang zusammen eingeschlossen. Ich weiß natürlich nicht, was sie sich zu

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