Der Zusammenbruch
dem Glück, das sie gestorben wähnte. In einem unwillkürlichen, unwiderstehlichen Antriebe warf sie die Arme um ihn und drückte ihn nun ihrerseits mit der ganzen Kraftihrer Weiblichkeit unter Küssen an sich, als hatte sie ihn nun ganz für sich allein wiedergewonnen, und niemand sollte ihr ihn wieder rauben. Er war ihr, die sie ihn verloren hatte, ein ganz Neuer, und sie wollte eher sterben, als ihn sich wieder nehmen lassen.
In diesem Augenblick aber ertönte lautes Geräusch, die mächtige Unruhe eines Aufbruchs, und erfüllte die dichte Nacht. Befehle und Hörner ertönten, und schattenhaft erhob es sich von der nackten Erde, ein undeutlich sich bewegendes Meer, dessen Flut sich bereits gegen die Straße hinab ergoß. Die Feuer unten an den beiden Ufern waren nahe am Erlöschen; man sah nur noch wirre Massen dahinziehen, ohne mit Sicherheit angeben zu können, ob die Strömung dieses Flusses noch anhalte. Noch nie war die Finsternis von solcher Angst, von einer so furchtbaren Bestürzung erfüllt gewesen.
Vater Fouchard war wieder ans Fenster herangetreten und rief hinein, es ginge weiter. Jean und Maurice erwachten schaudernd und schlaftrunken und standen auf. Honoré hatte lebhaft beide Hände Silvines zwischen seine genommen.
»Der Schwur gilt ... warte auf mich.«
Sie fand kein Wort, aber sie sah ihn mit ganzer Seele an, mit einem letzten, langen Blick, wie er durchs Fenster sprang, um im Laufschritt seine Batterie wieder einzuholen.
»Leb' wohl, Vater!«
»Leb' wohl, mein Junge!«
Und das war alles; der Bauer und der Soldat verließen sich abermals, wie sie sich wiedergefunden hatten, ohne Umarmung, als Vater und Sohn, die sich nicht zu sehen brauchten, um leben zu können.
Als auch sie den Hof verlassen hatten, rannten Jean und Maurice die steilen Abhänge herunter. Sie fanden unten die106er nicht mehr; alle Regimenter waren schon in Bewegung, und sie mußten immer weiter laufen; überall wurden sie wieder umgeschickt, nach rechts und nach links. Als sie endlich in der fürchterlichen Verwirrung schon den Kopf verloren hatten, fielen sie mitten in ihre Kompanie, die Leutnant Rochas führte; Hauptmann Beaudouin und das Regiment selbst mußten zweifellos wohl woanders sein. Und Maurice war ganz baff, als er feststellte, daß dieser Knäuel von Menschen, Tieren und Geschützen sich aus Remilly heraus und in der Richtung nach Sedan auf der linken Uferstraße weiterwälzte. Was bedeutete das? Was ging vor? Es ging nicht mehr über die Maas, sie zogen sich weiter nach Norden zurück!
Ein Jägeroffizier, der sich, niemand wußte wie, zu ihnen gefunden hatte, sagte ganz laut:
»Herrgott nochmal! Am 28. hätten wir so ausreißen sollen, als wir in le Chêne waren!«
Andere Stimmen versuchten Sinn in die Bewegung hineinzubringen; Neuigkeiten trafen ein. Gegen zwei Uhr morgens hatte ein Adjutant des Marschalls Mac Mahon dem General Douay die Meldung überbracht, die ganze Heeresgruppe habe Befehl, sich, ohne eine Minute zu verlieren, auf Sedan zurückzuziehen. Das bei Beoumant vernichtete fünfte Korps riß die drei andern in sein Unglück mit hinein. Der General, der in diesem Augenblick bei der Schiffsbrücke aufpaßte, war verzweifelt, als er sah, daß erst seine dritte Division über den Fluß gegangen war. Der Tag brach an, und er konnte von einem Augenblick zum andern angegriffen werden. So ließ er die ihm unterstellten Führer benachrichtigen, es solle jeder auf eigene Rechnung Sedan auf dem kürzesten Wege gewinnen. Er selbst zog, nachdem er die Schiffsbrücke aufgegebenund zu zerstören befohlen hatte, mit seiner zweiten Division und der Reserveartillerie am linken Ufer entlang; die dritte folgte dem rechten Ufer, und die erste, bei Beaumont zerbröckelte, floh aufgelöst auf unbekannten Wegen dahin. So bestanden vom siebenten Korps, das noch gar nicht gefochten hatte, nur noch zerstreute Trümmer, die sich auf den Wegen verloren und in der Finsternis dahinjagten.
Es war noch nicht drei Uhr und die Nacht war noch dunkel. Obwohl Maurice das Land kannte, wußte er doch nicht mehr, wo es hinging, da es ihm in dem ausgetretenen Strom, der in närrischem Gewühl die ganze Breite der Straße einnahm, unmöglich war, sich klar zu werden.
Viele dem Gemetzel bei Beaumont entronnene Mannschaften aller Waffengattungen, in Lumpen, mit Schweiß und Blut bedeckt, vermischten sich mit den Regimentern und verbreiteten Furcht. Aus dem ganzen Tale, auch von jenseits des Flusses, stieg ein gleichmäßiges
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