Der zweite Gral
junge Mann tatsächlich wieder ins Auge. Er ging scheinbar ziellos auf der gegenüberliegenden Straßenseite, doch jedes Mal, wenn Lara vor einem Laden stehen blieb, tat er es ihr gleich; sobald sie weiterging, setzte auch er seinen Weg fort.
Lara kaufte sich an einem Obststand einen Apfel und aß ihn, während ihr unzählige Fragen durch den Kopf schössen. Wer war der junge Kerl, und in wessen Auftrag spionierte er ihr nach? Hatte Interpol wieder ihre Spur aufgenommen? Oder gehörte der Bursche zu Assads Leuten? Wie war er trotz aller Vorsichtsmaßnahmen auf sie aufmerksam geworden? Und wurde Emmet ebenfalls beschattet?
Lara benötigte ein paar Antworten.
Sie setzte sich in den nächstbesten Bus und stellte zufrieden fest, dass der junge Bursche ebenfalls zustieg. Er drängelte sich durch den Mittelgang und wählte einen Platz irgendwo hinter ihr, sodass er sie nicht aus den Augen verlieren konnte.
Nach zwanzig Minuten erreichte der Bus den südlichen Stadtrand. Hier standen die Häuser nicht mehr dicht an dicht; dafür prägten große, schmucklose Wohnsilos und verwahrloste Freiflächen das Bild. Als der Bus an einer Haltestelle neben einem Rohbau hielt, stieg Lara aus. Ohne sich nach ihrem Schatten umzudrehen, schlenderte sie um den Block, während sie unauffällig die Baustelle inspizierte. Das Areal wirkte verlassen; niemand schien heute zu arbeiten.
Lara schlüpfte durch eine der zahlreichen Lücken im Zaun, passierte das freie, von spärlichem Gestrüpp bewachsene Gelände und betrat den Rohbau. Hier war es schattig und angenehm kühl, verglichen mit der schweißtreibenden Hitze des Tages. Außerdem würde hier vermutlich bis morgen niemand auftauchen. Es war der ideale Ort für eine Befragung unter vier Augen.
36.
S ergej Ljuschkin maß stattliche ein Meter zweiundneunzig und hatte einen Rumpf wie eine Regentonne. Sein Gesicht wirkte fleischig, war aber dennoch scharf geschnitten, und seine Hände waren groß wie Bärenpranken. Um sein Äußeres weniger bedrohlich erscheinen zu lassen, kleidete Ljuschkin sich stets in elegante schwarze Anzüge – Boss, Armani, Zegna. Schwarz machte optisch schlank, außerdem unterstrich es seinen hellen, beinahe rötlich schimmernden Teint. Schwarz machte ihn menschlicher und dadurch vertrauenswürdiger. Und das wiederum war gut fürs Geschäft.
Ljuschkin war der Inbegriff des modernen russischen Selfmademans. Nach dem Zerfall der ehemaligen Sowjetunion in die GUS-Staatengemeinschaft war er einer der Ersten gewesen, der die Vorteile der Marktliberalisierung für sich entdeckte. Angefangen hatte er 1992 mit dem Import billiger Autos aus dem Westen. Heute, mit dreiundvierzig Jahren, konnte er mit Fug und Recht von sich behaupten, zu den oberen Zehntausend des Landes zu gehören. Er dirigierte ein Imperium, das sich übers ganze Land von Moskau bis nach Wladiwostok erstreckte. Vom Autoverkauf war er längst abgekommen. Bereits seit Mitte der Neunzigerjahre befasste er sich nur noch mit der Herstellung hochmoderner medizinischer Geräte: Computertomographen, 3D-Ultraschall, Mikrosonden. Eine wahre Goldgrube.
Sergej Ljuschkin stellte sein Champagnerglas auf den kleinen polierten Mahagonitisch, ließ sich in die edle Ledergarnitur sinken und warf einen Blick aus dem Seitenfenster seines Learjets. Die dichte Wolkendecke unter ihm sah aus wie ein Meer aus Watte, ein weicher, weißer Teppich, der kein Ende zu nehmen schien. Hier oben wirkte alles ruhig und friedlich, unter dem Wolkenband jedoch tobte vermutlich ein Unwetter.
Ljuschkin drückte einen Knopf auf einer Konsole, die in die Seitenwand eingelassen war. »Wo sind wir gerade, Vladimir?«
»Ungefähr vierhundert Kilometer südöstlich von Ankara«, drang die Stimme des Piloten aus dem Lautsprecher. »Wir werden bald die syrische Grenze erreichen. Die Hälfte des Flugs haben wir noch vor uns, Gospodin Ljuschkin.«
»Danke, Vladimir.«
Er ließ den Knopf los und nippte noch einmal am Champagner. Dann griff er wieder zu seinem Buch, das er bis dahin gelesen hatte. Die Kunst der Alchimie. Er kannte es bereits. In seiner Kindheit hatte er es mit Begeisterung verschlungen, mehrmals sogar. Bis zum heutigen Tag übte es eine anhaltende Faszination auf ihn aus, umso mehr, als der jahrhundertealte Traum der Alchimisten nun endlich Wirklichkeit zu werden schien. Und er, Sergej Aleksejowitsch Ljuschkin, hatte Anteil daran.
Schmunzelnd dachte er an die vielen Menschen, mit denen er im Lauf seines Lebens über sein Faible
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