Der Zweite Messias
Als der Husten endlich nachließ, wischte Anna den Schleim von seinen Lippen und drückte ihm die Atemmaske aufs Gesicht. Sie hörte den gleichmäßigenLuftstrom des Sauerstoffgemischs, und bald beruhigte sich die Atmung ihres Bruders.
Anna spürte, dass er nicht mehr lange zu leben hatte. Franz litt unter heftigen Schmerzen, doch er hatte darauf bestanden, keine zusätzlichen Schmerzmittel zu nehmen. Er wollte einen klaren Kopf behalten, bis er mit einem alten Freund gesprochen hatte.
In diesem Augenblick hörte Anna auf der Straße einen Wagen bremsen. Sie spähte durch die Spitzengardine und sah den hochgewachsenen John Becket, der in dem winzigen roten Fiat 500 einen beinahe absurden Anblick bot. Becket hielt eine schwarze Tasche in der Hand, quälte sich aus dem kleinen Auto, kam mit schnellen Schritten zur Haustür und drückte ungeduldig auf die Klingel.
Anna drängte ihre Tränen zurück. Sie schaute auf ihren sterbenden Bruder und streichelte seine Hand. »Es ist Zeit, Franz. John ist da.«
90.
Julius Weiss hasste diese Stadt.
Seitdem er Rom vor vielen Jahren als Student zum ersten Mal besucht hatte, ging ihm die Geschichte der Stadt auf die Nerven. Die Römer hatten die Juden so sehr gegeißelt, dass sie fast in Vergessenheit gerieten, und alles an der grandiosen Architektur in dieser uralten Metropole erinnerte an ihre grausame Vergangenheit. Zu allem Übel hatte Weiss’ eigener Vater ihn Julius getauft. Ironie des Schicksals.
An diesem frühen Morgen überquerte er die Straße amKolosseum und ging zu einem grauen Taxi, das am Bordstein angehalten hatte. Als er in den Wagen gestiegen war, fädelte der Fahrer sich wieder in den Verkehr ein. »Was von Lela Raul gehört?«, fragte Weiss ihn.
Als Ari Tauber sich auf dem Beifahrersitz umdrehte, legte er seine gesunde Hand schützend auf den Verband. »Sie hat mich vor ein paar Stunden angerufen, Sir. Das Gespräch dauerte keine Minute. Sie wollte sich nur erkundigen, wie es mir geht. Seitdem habe ich nichts mehr von ihr gehört. Ich habe versucht, ihr Handy orten zu lassen, leider vergebens. Übrigens, ich verstehe nicht, warum Sie nach Rom gekommen sind. War das wirklich nötig?«
Weiss schnaubte wütend. »Ja, es war nötig. Ich habe eine wichtige Verabredung.«
Ari Tauber runzelte die Stirn. Er konnte Weiss’ Bodyguards nirgends sehen; dann aber entdeckte er einen großen Mercedes und einen BMW, die ihnen folgten.
»Könnte es sein, dass sie nicht mehr lebt?«, fragte Weiss.
Ari dachte kurz nach. »Jack Cane kennt sie schon sehr lange. Ich habe das Gefühl, dass sie noch immer Freunde sind. Deshalb würde es mich sehr wundern, wenn er ihr etwas antut. Mein Gefühl sagt mir, dass sie hier irgendwo steckt und ihm hilft, aus welchem Grund auch immer.«
Weiss kniff verärgert die Lippen zusammen. »Suchen Sie sie, Ari«, befahl er barsch. »Nutzen Sie alle Mittel, die notwendig sind.«
»Das habe ich bereits, Sir. Meine Informanten konnten nichts herausfinden.«
»Spüren Sie sie auf. Ich will keine Ausreden hören. Sie bekommen genug Unterstützung, dass Sie ganz Rom auf den Kopf stellen können, wenn es sein muss. Und rufen Sie immer wieder aufihrem Handy an. Wenn sie sich meldet, ziehen Sie das Gespräch in die Länge, damit wir das Handy orten können. Wo immer sie steckt, können Cane und die Schriftrolle nicht weit sein.«
»Ja, Sir. Aber da ist noch etwas.«
»Und was?«
Ari zeigte ihm sein Handy. »Ich habe vor ein paar Minuten einen Anruf bekommen. Wir haben von der Einwanderungsbehörde eine Kopie von Yasmin Greens Reisepassfoto bekommen. Zuerst ist es uns nicht gelungen, ihre Identität festzustellen, bis wir ihr Foto in unsere Computer eingescannt haben. Gefärbtes Haar und ein völlig verändertes Äußeres können die digitale Gesichtserkennungssoftware nicht täuschen. Wir wissen jetzt, wer Yasmin ist, Sir.«
91.
Jack wurde von Verkehrslärm geweckt. Schlaftrunken blickte er auf die Uhr. Es war Viertel vor sechs.
Draußen war es noch dunkel; nur ein silberner Lichtstrahl der Straßenbeleuchtung fiel durch die Vorhänge ins Zimmer. Jack tastete mit der Hand nach Lela, doch sie lag nicht neben ihm. Er stieg aus dem Bett, schaltete das Licht ein und sah sie in einem Hotel-Bademantel auf dem Stuhl am Fenster sitzen.
Er rieb sich die Augen. »Ich bin vom Lärm draußen wach geworden. Die Italiener fahren wie die Verrückten. Hast du nicht geschlafen?«
»Ein paar Stunden, aber ich hab mich nur hin und her
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