Der Zweite Messias
Schließlich waren Sie es, der die Schriftrolle gefunden hat.«
Jack Cane, der weiße Latexhandschuhe trug, nahm die Lupe in die Hand. Er konnte seine Aufregung kaum zügeln. Aufmerksam betrachtete er die verblassten Schriftzeichen auf dem zweitausend Jahre alten Pergament, das auf dem Tisch lag. Ein kleines Stück der Schriftrolle war abgerollt. Die Ränder waren dunkelbraun und brüchig geworden, nachdem die Schriftrolle viele Jahrhunderte in einem Tonkrug unter der Erde versteckt gewesen war.
Sie saßen in dem beengten Zelt von Professor Green, in dem Kisten voller Nachschlagewerke, ein Feldbett, ein Tisch und Klappstühle standen. Jack versuchte, mit Hilfe der Lupe im Licht einer Butanlampe, die am Zeltdach hing, etwas zu lesen. Fasziniert betrachtete er die verblassten aramäischen Buchstaben, die zum Vorschein gekommen waren, nachdem sie ein paar Zentimeter der Schriftrolle abgerollt hatten.
»Sind Sie ganz sicher?«, fragte er.
Professor Donald Green runzelte die Stirn. »Was meinen Sie, Jack?«
»Dass Ihre Übersetzung stimmt.«
Die Frage versetzte Greens Begeisterung einen Dämpfer. »Ich bin absolut sicher«, erwiderte er gereizt. »Yasmin und ich haben noch an dem Text gearbeitet, als alle anderen schon in denBetten lagen. Es ist mir gelungen, weitere acht Zentimeter der Rolle zu lösen, ohne Schäden anzurichten. Dann habe ich den Text entziffert. Ich hätte Yasmin nicht gebeten, Sie aus dem Bett zu werfen, wenn ich mir nicht ganz sicher gewesen wäre.«
Jack rieb sich die verschlafenen Augen und versuchte, sich auf die uralte Aufzeichnung zu konzentrieren, ohne Greens Verärgerung zu beachten. Immerhin war es schon nach fünf Uhr morgens. »Ich bin froh, dass Sie mich geholt haben, Professor«, sagte er beschwichtigend.
Professor Green war eine imposante Erscheinung – ein großer, kräftiger, energiegeladener Mann mit ergrautem Haar. Er trug ein Khaki-Tropenhemd mit Schulterklappen, von denen eine lose herunterhing, weil der Knopf fehlte. Green nahm seine Lesebrille ab und nickte. »Lesen Sie weiter und übersetzen Sie die dritte und vierte Zeile.«
»Das kann ich nicht, Professor. Meine Kenntnisse des Aramäischen sind mit Ihren nicht annähernd zu vergleichen. Außerdem ist die Schrift stellenweise stark verblasst.« Jack freute sich über den Fund; zugleich war er zutiefst erschöpft. Wie die meisten der vierzig anderen Mitarbeiter bei der Ausgrabung war er lange aufgeblieben und hatte Bier getrunken, um die Entdeckung der Schriftrolle in einer der Höhlen von Qumran zu feiern. Er hatte sich erst zwei Stunden, bevor Greens Nichte ihn wieder geweckt hatte, auf sein Feldbett gelegt.
Der Professor schaute ihm über die Schulter. »Ich sage Ihnen noch einmal, was da steht …«
»Warten Sie«, unterbrach Jack ihn aufgeregt und betrachtete gebannt die verblassten Symbole auf dem Pergament. »Meine Güte, Sie haben recht! Das ist unglaublich«, sagte er dann mit heiserer, bewegter Stimme.
»Das kann man wohl sagen«, erwiderte Green. »EineSchriftrolle wie diese wurde in Qumran noch nie gefunden. Sie ist einzigartig.«
Green hatte recht. 1947 waren von beduinischen Stammesangehörigen zweihundert Meter von dieser Fundstelle entfernt die ersten von vielen Hunderten der berühmten Schriftrollen des Toten Meeres im Tal von Qumran gefunden worden. Die meisten Funde stammten aus den Jahren 250 vor Christi Geburt bis ungefähr 70 nach Christus. Zweitausend Jahre lang waren sie unentdeckt geblieben.
Die Schriftrollen aus Lederhäuten, Papyrus und Kupferblech dokumentierten das Leben der Essener, einer streng jüdischen Religionsgruppe, die während der Zeit Jesu gelebt hatte. Kopien von Teilen des Alten Testaments wurden ebenso gefunden wie unbekannte Aufzeichnungen des Neuen Testaments.
Die Restaurierung und Übersetzung der Schriftrollen hatte Pater Roland de Vaux übernommen, Direktor der »École biblique et archéologique française de Jerusalem«. Dabei wurde er größtenteils von katholischen Priestern unterstützt. Die Bearbeitung dauerte Jahrzehnte und wurde immer wieder durch Kontroversen verzögert.
Nach der Entdeckung vergingen fast fünfzig Jahre, bis der Vatikan endlich verlauten ließ, der Inhalt der Schriftrollen sei vollständig veröffentlicht. Doch das langsame Voranschreiten von Vaux’ Arbeit und die extreme Geheimhaltung hatten die Theorie genährt, dass einige hohe Würdenträger des Vatikans brisante Informationen zurückhalten wollten, die in den Qumran-Rollen enthüllt
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