Der Zweite Messias
Artefakte, auf die der Glaube der Kirche gebaut war und die der Vatikan eifersüchtig bewachte: ein Splitter Walnussholz vom Querbalken des Kreuzes, an dem Christus gestorben war; der Schädel Johannes des Täufers; das Gewand Jesu; der Umhang der Jungfrau; Maria Magdalenas Fuß und sogar Teile derVorhaut Jesu, die angeblich einzigen Überreste des Erlösers, die in einer mit Smaragden und Rubinen besetzten Schatulle aufbewahrt wurden. Diese war mit zwei Engeln aus massivem Silber verziert und lag in einem bewachten Schrein in Calcate nördlich von Rom.
Der Kardinal bahnte sich vorsichtig seinen Weg durch die Gänge zwischen den Regalen bis zur Mitte des Gebäudes und ging an der kleinen Privatkapelle der berüchtigten Borgias vorbei. Er wusste genau, welchen Weg er nehmen musste, um den meisten Überwachungskameras auszuweichen. Er durchquerte die große Halle der Pergamente, in der Zehntausende von Dokumenten lagerten; viele waren von einem violettfarbenen Pilz befallen, der selbst den effizientesten Behandlungsmethoden trotzte. Es war ein modriger, schauriger Ort, der ihn an ein Grabgewölbe erinnerte.
Doch er wusste, dass die Geheimarchive viel mehr waren als die Lagerstätte einer toten Vergangenheit. Hier wurden hochsensible Aufzeichnungen der gegenwärtigen wirtschaftlichen Aktivitäten der Kirche aufbewahrt: Geschäftsabschlüsse, Finanztransaktionen und Unterlagen über die zahlreichen Kapitalanlagen des Vatikans, von denen einige höchst umstritten, manche sogar illegal waren. In einige dieser Geschäfte war die Mafia verstrickt, was zu strafrechtlicher Verfolgung und sogar zu Mord geführt hatte. Der Kardinal kannte diese verborgenen Geheimnisse nur zu gut. Er hatte fünf Jahre lang eine hohe Position bei der Vatikanbank innegehabt. Es war eine gefährliche Zeit gewesen, und diese schwarzen Tage wollte er am liebsten vergessen.
Schließlich erreichte er sein Ziel. Er stand auf der Rückseite des Gebäudes vor einer uralten, breiten Eichentür, die zu einem kleinen Raum führte. Auf einem Plastikschild an der Tür standauf Italienisch: ACCESSO LIMITATO – Zugang nur für Befugte. Der Kardinal zog einen Schlüsselbund unter seiner burgunderroten Soutane hervor, wählte einen Schlüssel aus, steckte ihn ins Schloss und drehte ihn herum.
Die Tür knarrte, als er sie öffnete. Der Kardinal betrat einen Raum, der aussah, als stamme er aus einer anderen Zeit. Mit Eichenholz getäfelte Wände, verstaubte Regale und zwei Schreibtische aus Walnussholz mit Messinglampen. Der Kardinal ging zu einem der Schreibtische und knipste die Lampe an. Er wusste genau, was er suchte. Als er den Karton auf einem der Regale fand, nahm er ihn herunter, ging zum Schreibtisch und stellte ihn unter die Lampe.
Ganz oben auf einem Stapel von Dokumenten lag eine Mappe, die mit einer roten Schnur zusammengebunden und mit einem Wachssiegel versehen war. Der Kardinal brach das Siegel auf, wobei Wachssplitter in alle Richtungen flogen. Er sammelte sie sorgfältig ein, steckte sie in die Tasche und schlug die Mappe auf. Auf der ersten, maschinegeschriebenen Seite stand: Bericht über die unveröffentlichten Schriftrollen vom Toten Meer.
Er brauchte nur wenige Augenblicke, bis er die Überschriften auf der nächsten Seite überflogen hatte, denn er kannte sie gut:
Liste der geheim gehaltenen Schriftrollen und Pergamentfragmente vom Toten Meer.
Beunruhigende Enthüllungen, die diese Schriftrollen enthalten (mit korrekten Übersetzungen und Verweisen auf bekannte historische und archäologische Fakten).
Die dramatischen Enthüllungen über den zweiten Messias und die Bedeutung der von Robert Cane entdeckten Originalschriftrolle.
Maßnahmen, die ergriffen werden müssen, um dieVeröffentlichung der kontroversen, die Existenz der Kirche gefährdenden Schriftrolle in der Zukunft zu verhindern.
Schlussfolgerungen und Empfehlungen.
Der Kardinal klappte die Mappe zögernd zu, schürzte die Lippen und seufzte, als läge eine große Last auf seinen Schultern. Dann knöpfte er rasch seine Soutane auf und steckte die Mappe ein.
Egal, was aus der Vatikanischen Bibliothek gestohlen wurde – jeder Diebstahl kam einer Todsünde gleich. Doch der Kardinal war seit seiner Kindheit in einem katholischen Waisenhaus, als er Gottes schützende Hand gesucht und gefunden hatte, auf das Innigste mit der heiligen Mutter Kirche verbunden. Seine gottesfürchtige Loyalität hatte ihm geholfen, von einem sanftmütigen Waisenkind zu einem respektierten
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