Der Zweite Messias
musste. Er erhob sich vom Marmorboden und schaute zu der Holztür auf der anderen Seite der Kapelle. Die Tür führte durch die Gärten zum Osttor des Vatikans.
Becket durchquerte die Kapelle, schob den Türriegel zur Seiteund betrat einen kleinen Vorraum, der den Geistlichen, die in den Vatikanischen Gärten arbeiteten, als Umkleideraum diente. An einer Wand hingen abgetragene Gewänder und Mönchskutten an Kleiderhaken; darunter standen schmutzige Arbeitsstiefel.
Der Papst zog die Soutane aus und streifte eine der braunen Kutten über. Nachdem er die Kapuze aufgesetzt und tief in die Stirn gezogen hatte, öffnete er die Tür und trat ins Freie.
25.
Als er fünf Minuten später gesenkten Hauptes auf die Wachposten am Osttor zuging, wogte seine Kutte ihm um die Beine. Zwei Nonnen gingen tuschelnd an ihm vorbei.
Becket lächelte, als er sich vorstellte, dass die beiden Nonnen unter ihren Gewändern Waffen trugen. Er hatte gehört, dass beim Sicherheitsdienst des Vatikans als Nonnen verkleidete Polizistinnen arbeiteten. Er kannte auch den Witz, der unter den Geistlichen in Rom kursierte: Es hieß, in ganz Rom seien keine neuen Trachten und Priestergewänder mehr zu bekommen, da Ryan sie alle aufgekauft habe, um sein Sicherheitspersonal einzukleiden.
Der Papst näherte sich dem Osttor, wo zwei Schweizergardisten und ein Polizist in Zivil den Ausgang bewachten. Becket hoffte, dass es einfacher war, den Vatikan zu verlassen, als ihn zu betreten. Tatsächlich sprachen die Gardisten ihn nicht an, als er an ihnen vorbeiging. In Rom wimmelte es von Geistlichen, und er war nur einer von ihnen.
Becket hielt auf die belebten Straßen zu und atmete tief ein, als wollte er seine Freiheit in vollen Zügen genießen. Nach der Stille in der Sixtinischen Kapelle trafen ihn das rege Treiben der Stadt und der Verkehrslärm wie ein Schlag. Die Luft war warm und stickig, und in den Straßen wimmelte es von Fußgängern und Fahrzeugen aller Art, die für eine ohrenbetäubend laute Geräuschkulisse sorgten. Ungeduld und Hektik knisterten wie Elektrizität in der Luft.
Unbemerkt ging Becket weiter in Richtung Osten. Während er sich einen Weg durch die Menge bahnte, wurde ihm bewusst, wie absurd die Situation war. Er ging hier spazieren, die am besten beschützte Person in Rom, und dennoch war er seinen Beschützern entwischt. Zwei junge Männer, die an einer Straßenecke lungerten, grinsten spöttisch, als sie ihn sahen, und schlugen das Kreuzzeichen, um sich gegen den bösen Blick zu schützen. Becket kannte diese alte römische Gewohnheit: Entweder liebten oder hassten die Bürger dieser Stadt die Geistlichen des Vatikans.
Bald ließ er die Menge in der Via Cavour hinter sich. Als er in eine Gasse einbog, sah er eine junge Frau, eine hübsche Brünette, die an einer Mauer lehnte. Sie trug High Heels, hielt ein weißes Täschchen in der Hand und drückte sich ein Handy ans Ohr. Sie trug einen kurzen schwarzen Rock, dazu eine Jeansjacke und ein enges weißes Top, das ihre üppigen Brüste zur Geltung brachte. Als die Frau ihn sah, steckte sie das Handy ein und stöckelte auf ihn zu. »Hallo, Pater.«
»Guten Tag, mein Kind.«
»Möchten Sie ein bisschen Zeit mit mir verbringen, Pater?«
Becket blieb stehen. Das Angebot der Prostituierten schockierte ihn nicht. Doch als er sie genauer betrachtete, sah er, dass ihre linke Wange grün und blau geschlagen war. Eine dickeSchicht Make-up sollte die Verletzung verdecken, aber sie war nicht zu übersehen.
Die junge Frau bemühte sich um ein Lächeln, doch es schien ihr schwerzufallen. »Na, wie sieht’s aus, Pater? Ich habe eine Wohnung ganz in der Nähe. Wir könnten viel Spaß miteinander haben …«
Dass die junge Frau einen Geistlichen als Kunden zu gewinnen versuchte, sprach für sich. Becket wusste, was es bedeutete. Auch Priester waren Menschen, und bei einigen war der Geist zwar willig, das Fleisch aber schwach. Er blickte der jungen Frau in die Augen und erkundigte sich freundlich: »Wie heißt du, mein Kind?«
»Maria.«
In Becket stieg Mitleid auf, als er auf die blutunterlaufene Wange der Frau schaute.
»Wer hat dich so zugerichtet?«
Die Frau schwieg. Vermutlich hatte er einen wunden Punkt berührt. Als Becket eine Hand hob, um ihr Gesicht behutsam zu untersuchen, wich sie zurück. »Rühren Sie mich nicht an!«, stieß sie hervor.
»Du musst zu einem Arzt. Deine Wange …«
»Wollen Sie mit mir vögeln oder nicht?«, fragte die junge Frau grob.
Die vulgäre
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