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Der Zweite Messias

Titel: Der Zweite Messias Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Glenn Meade
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die Kapelle ist im Augenblick geschlossen.«
    Der Mann in der Soutane zog die Kapuze vom Kopf und lächelte. Es war ein warmes, herzliches Lächeln, das das härteste Herz erweichen konnte. »Ich dachte, es sei niemand in der Kapelle. Es tut mir leid.«
    Der Bedienstete errötete verlegen. »Heiliger Vater … bitte, verzeihen Sie, ich habe Sie nicht erkannt.«
    »Sie müssen mir verzeihen, mein Sohn«, erwiderte der Papst freundlich. »Es tut mir leid, dass ich Sie bei der Arbeit störe.«
    »Aber nein, so ist es nicht! Die Kapelle … Sie ist nur geschlossen, weil ich den Altar herrichten muss. Bitte bleiben Sie, Heiliger Vater.«
    Der Papst nickte. »Ich wollte alleine sein und Gebete sprechen. Eine halbe Stunde, länger nicht. Wären Sie damit einverstanden?«
    »Natürlich. Mit größter Freude, Heiliger Vater.«
    Der Papst nickte, als der Mann niederkniete und seinen Ring küsste. Dann verließ er die Kapelle und schloss die Türen leise hinter sich. John Becket war allein.

    Die Sixtinische Kapelle versetzte ihn immer wieder in Erstaunen. Es war unvorstellbar, was Michelangelo geleistet hatte: Zehn Jahre seines Lebens hatte er damit verbracht, hier auf dem Rücken liegend die Wände und Decken zu bemalen – nur zum Ruhme Gottes, ohne Bezahlung außer freier Kost und Logis.
    John Becket hob den Blick zu dem eindrucksvollen Deckengemälde. Es erstaunte ihn immer wieder, dass so viele Farben und Bilder ein unglaubliches Ganzes ergaben. Und es erinnerte ihn stets aufs Neue an die Großartigkeit der göttlichen Schöpfung und daran, wie im Universum alles ineinandergriff und wie Gott in der Natur ein unfassbares Gleichgewicht schuf.
    Im Priesterseminar hatte er wiederentdeckt, was die jesuitischen Denker vor langer Zeit herausgefunden hatten, als sie von den Observatorien des Vatikans aus den Himmel beobachteten und nach Antworten suchten: dass alles, was existierte, einen Sinn hat – jedes Molekül, jedes Lebewesen, das ganze Universum. Die Erde war nicht das zufällige Produkt einer chaotischen und richtungslosen Natur. Wie könnte das sein, wo doch jede Zelle des menschlichen Körpers mehr Informationen enthielt als die Bände einer riesigen Enzyklopädie? Der Mensch war keine Laune der Natur, kein Unfall der Schöpfung; er war bewusst und mit einem bestimmten Ziel von Gott erschaffen worden. Davon war John Becket felsenfest überzeugt.
    Er wollte gerade vor dem Altar niederknien, um zu beten, als unter seiner Soutane Papier knisterte. Es war der Umschlag, den einer der Sekretäre ihm gebracht hatte. »Ein Brief für Sie, Heiliger Vater«, hatte der Mann gesagt. »Die Dame, die ihn gebracht hat, sagte, es sei dringend, und der Inhalt sei privat und nur für Sie bestimmt, und dass Sie den Brief bestimmt sofort lesen wollen.«
    Nun zog Becket den weißen Umschlag unter seiner Soutane hervor. Sein Name war mit blauer Tinte geschrieben: Der Heilige Vater, Papst Coelestin VI. In der oberen linken Ecke standen die Worte persönlich und privat . Behutsam öffnete er den Umschlag und entdeckte ein handgeschriebenes Blatt und einen zusammengefalteten Zeitungsartikel. Als er den Brief las, wurde erblass. Dann faltete er mit zitternden Händen den Zeitungsausschnitt einer vor zwei Tagen erschienenen italienischen Tageszeitung auseinander. Der Artikel trug eine dramatische Überschrift in Fettdruck:

    MYSTERIÖSE ZWEITAUSEND JAHRE ALTE SCHRIFTROLLE IN ISRAEL GEFUNDEN UND NACH BRUTALEM MORD VERSCHWUNDEN

    Schockiert stand Becket da und las mit grenzenloser Ungläubigkeit den Artikel und den Brief. Dann faltete er beides wieder zusammen, steckte es mit zitternden Fingern in den Umschlag und schob ihn unter seine Soutane. Mit einem Mal wurde ihm seine eigene Scheinheiligkeit schmerzlich bewusst.
    Ich bestehe darauf, dass die Kirche ihre dunkelsten Geheimnisse offenbart, während ich mein eigenes düsteres Geheimnis für mich behalte, weil dieses Geheimnis nicht nur mich selbst, sondern die Kirche zerstören könnte.
    Obwohl es in der Kapelle kühl war, schwitzte Becket. Er wischte sich mit der Hand über die Stirn – eine einfache Geste, in der sich seine Qual spiegelte. Dann legte er sich vor dem Altar auf den Boden, drückte sein verschwitztes Gesicht auf den kalten Marmor, schloss die Augen, begann zu beten und dachte an die Worte des heiligen Augustinus. Es gibt Geheimnisse in meinem Herzen, von denen nur du wissen kannst, Herr.
    Minuten später hörte Becket irgendwo draußen eine Glocke läuten. Er wusste, was er tun

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