Der Zweite Messias
meine Leute sich zuerst mit Akten beschäftigen, die mit der jüngeren Vergangenheit des Vatikans zu tun haben. Dinge von historischer Bedeutung, die bis jetzt unter Verschluss lagen und über die endlos spekuliert und gestritten wurde.«
Cassini blickte neugierig drein. »Könnten Sie mir Genaueres sagen?«
»Zum einen geht es um Enthüllungen und Prophezeiungen religiöser Natur, zum anderen um finanzielle Angelegenheiten des Vatikans – Dinge, die zu wilden Spekulationen geführt haben. Meine Prüfer erstatten mir umgehend Bericht, wenn sie ihre Arbeit abgeschlossen haben. Dann überlegen wir gemeinsam, wie es weitergehen soll.« Becket machte eine kurze Pause. »Sind Sie zu mir gekommen, Umberto, um sich nach den Fortschritten der Prüfer zu erkundigen?«
»Nein, Heiliger Vater. Ich komme zu Ihnen, weil ich beunruhigt bin.«
»Und was beunruhigt Sie?«
»Zum einen Ihre persönliche Sicherheit. Zum anderen macht mir Ihre Entscheidung Sorgen, die Archive der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Halten Sie es immer noch für klug, an diesem Versprechen festzuhalten?«
»Warum sollte ich diese Entscheidung rückgängig machen?«
Cassini seufzte und sagte behutsam: »Ich habe Gerüchte verängstigter Mitglieder der Kurie gehört. Sie befürchten, dass esdie Kirche zerstören und das Ende unserer Religion bedeuten wird, wie wir sie kennen. Sie sagen, dass Ihr Neubeginn, Heiliger Vater, in Wahrheit das Ende sein könnte. Ihr Wunsch, die katholische Kirche zu öffnen und den anderen christlichen Glaubensgemeinschaften die Hand zu reichen, geht diesen Leuten zu weit. Es ist mir unangenehm, es Ihnen zu sagen, aber ich habe sogar die Frage gehört, ob Sie ein Teufel im Lammfell sind.«
»Gehören auch Sie zu den Zweiflern, Umberto?«
Auf diese Frage war Cassini nicht vorbereitet. Erst nach längerem Nachdenken antwortete er: »Ich gebe nur die Bedenken wieder, die ich gehört habe. Wir wissen beide, dass es in den Gewölben des Archivs Geheimnisse gibt, die die Kirche bis ins Innerste erschüttern könnten. Viele unserer Brüder meinen, man solle diese Geheimnisse ruhen lassen. Andere haben gewisse Fragen gestellt.«
»Was für Fragen?«
»Ob wir einen Meinungsstreit entfachen sollen. Ob wir Zorn auf uns laden sollen. Ob es die Sache wert ist, die Welt durch unbedingte Ehrlichkeit zu erschüttern.«
»Genau das hat unser Erlöser auch getan, Umberto. Seine Worte sollten der Leim sein, der alle christlichen Glaubensgemeinschaften zusammenhält. Doch unser Stolz und unsere Überheblichkeit stehen einer geeinten Christenheit im Weg. Vielleicht ist jetzt die Zeit gekommen, unseren Stolz abzulegen und den anderen Kirchen die Hand zu reichen, Umberto. Denn zwischen allen Gläubigen, gleich welcher christlichen Gemeinschaft sie angehören, sind die Ähnlichkeiten sehr viel größer als die Unterschiede.«
Cassini errötete. »Gewiss, Heiliger Vater, aber wir sind verantwortlich für den Fortbestand der Kirche. Das Fundament des Glaubens könnte erschüttert werden.«
»Meinen Sie wirklich, Umberto?«
»Ich glaube, dass diese Bedenken angebracht sind«, erwiderte Cassini diplomatisch.
Becket schloss die Augen und dachte nach. Einen Moment spielte er mit dem Rosenkranz in seinen Händen, ehe er die Augen wieder öffnete. »Ich will Ihnen sagen, warum ich den Namen Coelestin gewählt habe, Umberto. Einer meiner Vorgänger, Coelestin V., war ein einfacher Mann, doch er besaß eine Weisheit, von der wir alle lernen können. Er wurde schon zu Lebzeiten als Heiliger betrachtet. Alle Päpste vor ihm hatten sich als Diener Gottes bezeichnet, aber nur wenige verhielten sich entsprechend. Coelestin V. trat zurück, als die Kurie sich gegen ihn verschwor.«
Der Papst hielt inne und schaute seinen Besucher freundlich an. »Ich will ein wahrhaftiger Diener sein, Umberto. Die Kirche ist auf Liebe und Wahrheit gebaut, das wahre Fundament unseres Glaubens. Sie sind für jeden Priester die wichtigsten Verpflichtungen. Und wenn ich nun versuche, meine Verpflichtung der Wahrheit gegenüber einzuhalten, geschieht dies aus Liebe zu den Menschen und der Kirche, komme, was da wolle.«
»Aber …«
»Kein Aber, Umberto. Seit Jahren fordern die Gläubigen einen Papst, der nicht wie ein Monarch herrscht, sondern der ihnen Freund und Hirte ist. In der Nacht, als ich gewählt wurde, habe ich versprochen, mich in den Dienst des Wandels zu stellen. Ich sehe keinen Grund, an diesem Versprechen etwas zu ändern.«
»Machen Sie sich denn
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