Der Zweite Messias
Kardinal mit einer tiefen Verbeugung. »Ich freue mich, Sie zu sehen, Eminenz«, sagte er und trat einen Schritt zur Seite, damit der Besucher hereinkommen konnte.
Cassini betrat den großen Raum mit den hellen Wänden. Mindestens zwei Dutzend Priester saßen an Metalltischen. Cassini wusste, dass John Becket diese Männer persönlich ausgewählt hatte, da er ihnen hundertprozentig vertraute. Neben den Priestern standen Stapel von Kartons, Dokumenten und Akten. Einige dieser Dokumente waren alt und vermodert, andere waren neueren Datums. Doch Cassini fiel auf, dass sämtliche Dokumente das päpstliche Siegel trugen. Und das wiederum bedeutete, dass sie aus den am strengsten bewachten Gewölben der Vatikanischen Archive stammten. Die Priester arbeiteten voller Konzentration, sodass sie kaum den Blick hoben, als Cassini eintrat.
»Mir wurde gesagt, der Heilige Vater sei hier«, sagte Cassini leise zu Rossi. »Offenbar hat man mich falsch informiert.«
»Nein, Eminenz. Er war den ganzen Tag mit seinen Prüfern hier.«
»Und wie geht es voran?«
»Wir arbeiten rund um die Uhr, aber niemand beklagt sich. Der Heilige Vater ist ein Mann, der es versteht, die Dringlichkeit seines Anliegens deutlich zu machen. Das gibt uns allen Kraft. Wir wissen, dass unsere Arbeit wichtig ist und dass wir helfen sollen, die Kirche zu erneuern. Einige meiner Priesterkollegen behaupten sogar, ihr Glaube sei durch die Wahl des neuen Papstes gestärkt worden.« Er lächelte. »Manchmal könnte man den Eindruck gewinnen, als wäre der Messias zurückgekehrt.«
»Wo ist der Heilige Vater jetzt?«, fragte Cassini.
»Er ist vor zehn Minuten hinausgegangen, um frische Luft zu schnappen.«
»Und wohin?«
»In die Gärten, nehme ich an. Er hat gesagt, er brauche ein wenig Zeit für sich allein, um seine Gedanken zu ordnen.«
Cassini wandte sich zum Gehen, drehte sich dann aber noch einmal zu dem stattlichen Priester um und fragte leise: »In welcher Verfassung war er?«
»Er sah besorgt aus«, antwortete Rossi mit erster Miene. »Zutiefst besorgt, Eminenz.«
Der Kardinal nickte und ging davon.
44.
Cassini folgte dem Weg durch die Vatikanischen Gärten mit den gepflegten Rasenflächen und den prachtvollen Blumenbeeten. Die Gärten, hinter hohen Mauern gelegen, waren im sechzehnten Jahrhundert erweitert worden, um die Heilige Stadt besser verteidigen zu können. Zwischen Orangenhainen, Nadelbäumenund Sträuchern standen Heiligenstatuen und Springbrunnen. An einem Brunnen, der mit Drachen und Tritonen verziert war, blieb Cassini stehen.
Neben dem Brunnen saß John Becket. Der Wind spielte mit seinem Haar, während er mit sorgenvoller Miene auf das plätschernde Wasser blickte.
Cassini fiel auf, dass der Papst seit seiner Wahl noch nie die vollständige Amtstracht getragen hatte. Auch diesmal trug er nur ein schlichtes Holzkreuz um den Hals und eine einfache weiße Soutane, jedoch ohne Zucchetto , das kleine weiße Scheitelkäppchen. Als Cassini sich dem Papst näherte, sah er, dass er im Gebet vertieft war. Ein Rosenkranz glitt durch seine langen, schlanken Finger.
In der Hoffnung, der Papst würde sein Kommen von selbst bemerken, wartete Cassini. Als nichts geschah, räusperte er sich, um sich bemerkbar zu machen. »Verzeihung, Heiliger Vater …«
John Becket drehte sich um. Der ernste Blick wich einem Lächeln, und er schaute Cassini mit seinen blauen Augen freundlich an. »Umberto. Ich freue mich, Sie zu sehen.«
Cassini verneigte sich und küsste die rechte Hand des Papstes. »Heiligkeit.«
»Setzen Sie sich zu mir.«
Cassini setzte sich an den Brunnen. »Ich hoffe, ich habe Sie nicht beim Beten gestört.«
»Aber nein. Ich habe meine Gebete beendet.«
»Ich hatte gehofft, Sie im Archiv anzutreffen, doch Pater Rossi sagte mir, dass Sie in die Gärten gegangen sind, um allein zu sein. Verzeihen Sie die Störung, Heiliger Vater.«
»Schon gut, Umberto. Ich freue mich über Ihre Gesellschaft. Pater Rossi ist ein bemerkenswerter Mann. Ich habe ihm nie gesagt, woher ich komme, doch er scheint viel mehr Geheimnissezu kennen als die des Archivs. Ich hoffe, er ist nicht allzu wütend darüber, dass wir in sein Territorium eingedrungen sind.«
»Ihre Prüfer halten ihn ganz schön auf Trab«, antwortete Cassini, »aber alle wissen, wie wichtig ihre Aufgabe ist, und sprechen voller Respekt über Sie, Heiliger Vater. Darf ich fragen, ob es Fortschritte gibt?«
»Es ist noch zu früh, Umberto. Aber ich kann Ihnen so viel verraten, dass
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