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Des Abends eisige Stille

Des Abends eisige Stille

Titel: Des Abends eisige Stille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Hill
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Klappkisten gestapelt, um ihn wieder einzuräumen, wenn die Truhe enteist war.
    Jetzt wollte sie mit den Regalen anfangen. Der Himmel mochte wissen, was in all den Kartons war. Alte Spielsachen. Altes Werkzeug. Alte Akten. Alte Kleider. Alt. Alt. Alt. Warum hatten sie das alles aufgehoben? Weil sie den Platz dafür hatten. Sie würde jeden einzelnen Karton herunterheben und öffnen, den Inhalt durchschauen, aussortieren und rücksichtslos wegwerfen. Es war das Einzige, was sie tun konnte, eine Arbeit, die sie beschäftigte, ermüdete, getan werden musste und erledigt werden konnte, während der größte Teil ihrer selbst woanders war.
    Bei David.
    Wo?
    Ein kleiner Zug fuhr durch ihren Kopf wie eine Spielzeugeisenbahn, bepackt mit Kartons und Bündeln und Taschen, und immer mal wieder fiel ein Gegenstand herunter und durch einen Schacht, landete vor ihren Füßen, verlangte ihre Aufmerksamkeit. Sie musste ihn aufheben. Sie konnte nicht anders. Sie musste ihn öffnen, musste den Inhalt untersuchen.
    Diesmal enthielt der Karton ein Bild von David, gerade geboren, glitschig, rot angelaufen, die Augen gegen das Licht fest zusammengekniffen, die Ärmchen fuchtelnd. Haare. Ein dunkler Struwwelpeterschopf. Für einen Sekundenbruchteil sah sie David kopfüber. Seine Genitalien hatten riesig gewirkt, wie ein seltsamer Auswuchs vor den winzigen, feuchten Gliedern.
    Sie stand in der kalten Garage, betrachtete den Inhalt des Kartons unter dem forensischen Licht. Sie war sich des Ölgeruchs der alten Handschuhe bewusst, spürte die Kälte aber überhaupt nicht.
    Einen Augenblick lang überlegte sie, was sie hier tat und warum. Einen weiteren Augenblick lang konnte sie sich nicht an ihren eigenen Namen erinnern.
    »Marilyn?«
    Die Tür zum Haus hatte sich geöffnet. Da stand eine Frau. Wer war das? Sie kam ihr vage bekannt vor. Sah freundlich aus. Marilyn hatte das Gefühl, höflich sein zu müssen, wusste aber nicht genau, auf welche Weise.
    »Der Chief Inspector ist da.«
    Die Frau kam rasch auf sie zu. Die Frau legte ihr die Hand auf den Arm.
    »Es gibt nichts Neues. Er möchte nur mit Ihnen sprechen.«
    Die Frau, die neben ihr stand, war die Verbindungsbeamtin. Kate? Ja, Kate irgendwas.
    »Vielen Dank.«
    »Sie sind ja eiskalt. Sie waren zu lange hier draußen.«
    »Ja?«
    Sie konnte sich nicht erinnern, wie lange sie schon in der Garage war oder was sie gemacht hatte. Zu ihren Füßen schienen eine Menge Säcke und Kartons zu liegen, und der Deckel der Tiefkühltruhe war geöffnet.
    »Kommen Sie, ich räum das auf, nachdem ich Tee gekocht habe … Kommen Sie ins Warme.«
    Sie ließ sich von der jungen Frau in die Küche führen und dabei helfen, etwas auszuziehen, was anscheinend Alans alte Schaffelljacke war. Ihre Hände rochen nach Öl.
    »Brauchen Sie noch ein wenig Zeit für sich? Er wird warten …«
    Er?
    In der Küche war es warm. Das Auftauen war wie das Aufwachen aus einem Traum.
    »Der DCI .«
    Ein plötzlicher Schmerz schnitt ihr ins Herz, als es ihr wieder einfiel.
    »Ja«, sagte sie, »natürlich.«
    Simon Serrailler. Sie konnte ihn sich immer noch nicht als Polizisten vorstellen. Serraillers waren Ärzte.
    Sie ging ins Wohnzimmer.
    »Nehmen Sie doch bitte Platz … Der Tee kommt gleich.« Sie lächelte. »Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie hoch unsere Teerechnung sein wird.«
    Dann hob sie den Arm, stützte ihn auf dem Kaminsims ab und brach in so heftiges und verzweifeltes Schluchzen aus, dass Simon zusammenschreckte.
    Er stand auf und reichte ihr die Schachtel Papiertaschentücher vom Couchtisch. Es passierte oft genug, und er verstand es, dieses schreckliche, herzzerreißende Weinen. Er wartete hilflos. Schließlich schüttelte sie den Kopf, wischte sich über das Gesicht und setzte sich.
    Sie sieht aus, als wäre sie hundert Jahre alt, dachte Simon, oder alterslos, jenseits jedes menschlichen Alters.
    »Ich möchte tot sein.«
    »Mrs. Angus, wir …«
    »Nein, bitte sagen Sie nicht, dass Sie alles in Ihrer Macht Stehende tun, um ihn zu finden. Das denken Sie, aber es ist nicht genug … Nichts ist genug, außer jeder einzelne Mensch in diesem Land lässt auf der Stelle alles stehen und liegen und sucht nach ihm.«
    »Ja«, erwiderte Simon ruhig.
    Die Polizeibeamtin reichte ihm eine Tasse Tee.
    »Aber ich bin hier, um mit Ihnen darüber zu sprechen, was wir planen … Mit Ihrer Einwilligung möchte ich eine Rekonstruktion von Davids letzten bekannten Schritten in Szene setzen.«
    Marilyn starrte ihn

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